FILOZÓFIA

Kiss Endre

Die Legende der Gerechten als ethisches, soziologisches und sozialontologisches Narrativum

 

2020.07.11.

 

Die materiale Ethik exponiert die Strukturprobleme der Säkularisierung auf ihre eigenartige Weise. Die in der Religion eingebettete materiale Ethik gilt sinnvollerweise nicht direkt und ausschließlich als Ethik. Sie ist vielmehr schon eine vollständige Welterklärung, in welcher die Ethik wie selbstverständlich eingebettet ist. Die in die Religion aufgenommene materiale Ethik verfügt über eine problemlose Existenz. Ihre Geltung wird sogar auch noch vervielfältigt, denn die elementare Legitimation der Religion legitimiert die Ethik zusätzlich, während die legitime Ethik rückwirkend immer wieder die Legitimation der Religion bekräftigt.[1]

Die diesseitige materiale Ethik lässt sich auf zwei Wegen konstituieren. Der eine Weg ist die unmittelbare Benennung eines konkreten Grundwertes, mit all den hermeneutischen und kommunikativen Problemen dieses Verfahrens. Diese erste Möglichkeit ist in ihrer Struktur mit derselben der in die Religion eingebetteten materialen Ethik isomorph, der Unterschied besteht ausschließlich in der religiösen oder diesseitigen Begründung dieses Grundwertes (oder zentralen Gutes). Der zweite Weg des Aufbaues einer diesseitigen materialen Ethik wählt den entgegengesetzten Ansatz. Hier wird der Ausgang nicht vom Grundwert genommen. Hier ereignet sich der Entwurf eines philosophischen Weges, an dessen Ende wir mit zwingender Notwendigkeit zu dem diese materiale Ethik bestimmenden Grundwertes und dadurch auch zur Befolgung dieser Ethik gelangen müssen. Ein vielsagendes Beispiel hierfür findet sich etwa bei Scheler, der diesen philosophischen Weg durch die Inanspruchnahme der breit verstandenen phänomenologischen Methode ins Visier nimmt. Die Inanspruchnahme dieser zweiten Möglichkeit geht notwendig über das Territorium der Ethik hinaus. Dies ist so, weil dann die Richtigkeit und Brauchbarkeit eines philosophischen Gedankenganges es ist, das über das Schicksal einer Ethik entscheidet.

Neben diesen beiden Wegen dürfte bei der Fundierung der diesseitigen materiellen Ethik aber auch die Möglichkeit der Narrativität in Betracht gezogen werden. Narrativität ist in diesem Zusammenhang kein rein literarischer oder sonst wie mit Text und Textologie zusammenhängender Ausgangspunkt. Sie besteht in der Formulierung von Geschichten, die sich in ihren letzten Formen zu jenen Einsichten und charismatischen Evidenzvorstellungen erheben können, die gerade durch ihre erzählerische, narrative Konstruktion zur Fundierung einer materialen Ethik beitragen. In diesem dritten Weg dürften religiöse, mythologische, philosophische, folkloristische und ethische Momente zusammenfallen.

Der Ursprung des die Ethik konstituierenden Narrativums qualifiziert die Qualität der Ethik nicht, die auf diesen Grundlagen entsteht. Diese Ethik gibt keine Definitionen im Sinne der ersten beiden Versionen. Dies mag Schwierigkeiten bereiten, allerdings nur auf den ersten Blick, denn das adäquate Verständnis der Geschichte wird gerade erst in dieser narrativen Form möglich gemacht.

Besonders (wenn auch nicht ausschließlich) befördern gewisse philosophische Gegenstände wie das Gewissen, die Gerechtigkeit oder das Glück das Entstehen der Narrativität in der materiellen Ethik.[2] Diese sind vor allem wegen ihrer Komplexität, manchmal aber auch wegen ihrer anderen gegenständlichen Bestimmungen weder durch den Mechanismus der formalen noch durch den der materialen Ethik adäquat zu bearbeiten.

Die Komplexität schafft für die Konstitution des ethischen Urteils große Herausforderungen. Wesentlich kann man es mit dem nie ganz kalkulierbaren Reichtum der Wirklichkeit (und der wirklichen Breite der möglichen ethischen Urteilsbildung) erklären. Sowohl die formale als auch die materiale Ethik schreibt den Weg vor, auf welchem man auch in seiner Freiheit zur richtigen Entscheidung kommen kann. Gerade, aus welchen Gründen auch immer, sehr komplexe Situationen erschaffen eine Breite von Motiven, die weder von der einen, noch von der anderen ethischen Auffassung voll erfasst werden können. Darüber hinaus erhalten die ethischen Narrative immer auch ein Stück tiefer Didaxis.Sie beinhalten immer auch eine Botschaft an die ethisch Handelnden, in manchen Fällen demonstrieren sie auch, wie und warum die ethische Urteilsbildung aufgebaut werden soll.

Diese Momente weisen darauf hin, dass die Narrativität auch selbst Instrumente aufweisen kann, mit denen sie gerade das erreichen kann, was für die beiden ethischen Verfahrensweisen nicht (immer) möglich ist. In der erzählten Geschichte mögen die direkten Hinweise, die in der Kultur aufgehobenen Assoziationen, die Sprachspiele und ähnliche semantisch relevante „Ergänzungen”, die Authentizität des narrativ vorgetragenen Geschichte, die Instrumentalisierung der lokalen und des persönlichen Wissens der Zuhörer alle dafür geeignet sein, die narrative Methode in Zusammen-hängen anzuwenden, die sowohl für den gewöhnlichen Zugang, wie auch für die gewöhnliche Konstitution von der formalen und materialen Ethik zur Verfügung stehen. Wenn sie erfolgreich ist, kann ethische Narrativität die leeren Räume ausfüllen, die Definitionsprobleme erleichtern und was das Wichtigste ist, sie ist fähig, ins Innere der extrem komplexen, der absurden oder der paradoxen Probleme einzudringen, die oft wegen ihrer Komplexität mit den üblichen Mitteln entweder überhaupt nicht, oder nur mit Verlusten identifiziert werden können.

Unter dem spezifisch ethischen Aspekt ist es wichtig, dass aus der ethischen Narrativität gleicherweise eine formale wie eine materiale Ethik entwickelt werden kann, wie auch, dass die ethische Narrativität als Instrument gleicherweise sowohl von der formalen als auch der materiellen Ethik in Anspruch genommen werden kann.

In dem sich unaufhörlich reproduzierenden Strom der ethischen Narrativen selektieren sich solche, die eine extrem hohe Komplexität so erfolgreich ergreifen können, dass sie in der Erklärung letztlich in der Kommunikation ohne Konkurrenz dastehen, deshalb bleiben diese Narrative auch in der Erinnerung der Menschheit fest verankert. Es ist eine wahrlich pragmatische Selektion, deren Arbeit auch hinter der Analyse dieser narrativen Strukturen stehen muss.

Die uns bekannten berühmtesten ethischen Narrativen sind auf diesem Wege überliefert worden.Es ist nicht einfach, zu denken, dass es überhaupt möglich ist, die (unter ethischem Aspekt) materiale Relation von Individuum und Gemeinschaft in ihrer wirklichen Komplexität und ihren wirklichen Wechselverhältnissen adäquater darstellen zu können, als es in der mythologischen Geschichte der Cassandra der Fall ist. Der (die) Einzelne, der (die) die Zukunft genau vorsieht, nur eben seine (ihre) Gemeinschaft ihm (ihr) keinen Glauben schenkt, ist zur selben Zeit eine unglaubliche, eine unerhörte, eine sehr häufige (an der die Massenkommunikation merkwürdigerweise auch kein Jota ändern kann), gleichzeitig aber auch eine für diese Gemeinschaft lebensgefährliche Angelegenheit.

Die hier arbeitende ethische Dimension ist in einen sozialen Prozess eingebettet, in eine „Ereignisreihe”, die so erzählt werden muss, dass an jeder Stelle dieser Erzählung die jeweiligen konkreten Kräfteverhältnisse, die jeweiligen konkreten Konsequenzen und die jeweiligen konkreten ethischen Verantwortung transparent werden. Kein einzelner Punkt dieser Kette ist in sich bestimmend, bei keinem einzelnen Punkt kann also die ethische Dimension herauskristallisiert werden. Dies ist auch die Stelle, an der die narrative Lösung einer außerordentlich komplexen Situation, geschweige denn der ethische Aufweis ihrer Interpretation und ihrer Konsequenzen auch in philosophische Dimensionen hinüberschwingt, und in ihrer ethisch-demonstrativen Beschaffenheit selber zum Teil der Geschichte der Soziologie und der sozialen Ontologie wird.

Ein außerordentlich bedeutendes Narrativum ist die Geschichte Abrahams und Isaaks. Dieses Narrativum verfügte über eine permanente Existenz, sodass es etwa ein Philosoph aus dem neunzehnten Jahrhundert als klassische Grundgeschichte zum Gegenstand einer weiteren Reflexion erheben konnte. Diese, der Cassandra-Geschichte ähnliche Erzählung ist fähig, jene Dialektik fassbar zu machen, die in ihrer Ganzheit in einer einzigen ethischen Entscheidung nie voll gesehen und untersucht werden kann, denn ihre offenen Sprünge schaffen immer neue Ausganspunkte, die dann auch als Paradoxa gleich auch neue ethische Räume öffnen. Diese lassen den ethischen Charakter der vorhergehenden Entscheidungen in neuem Licht erscheinen. Abraham gewinnt das Leben seines Sohnes dadurch zurück, dass er dem Befehl Gottes Folge leistet. Hinter diesem dialektischen Sprung steht aber auch ein noch umfassenderer. Kierkegaard zeigt, dass Religion dadurch zum neuen Leben wird, dass man ihr folgt. Der ethische Befehl führt zur Tat, während die Tat jene Ethik in Wirklichkeit wieder neu schafft, die der direkte Befehl der Religion ist…

Das Narrativum der 36 Gerechten in der jüdischen Tradition ist ebenso im Kontext ethischer Narrativität von außerordentlicher Bedeutung. Diese Bedeutung ist nicht allein historisch, da sie auch ohne historischen oder theologischen Zusammenhang in der Lage gewesen wäre, in ihrer ursprünglichen Form klassisch und unüberwindlich zu werden. Sie stammt aus heiligen Büchern, allerdings gilt sie auch aus anderen Gründen als heilig. Sie thematisiert den Dialog zwischen Gott und Mensch, und zwar gleichzeitig auf direkten und indirekten Kanälen. Gerade in ihrem heiligen Status begründet sie auch eine diesseitige materiale Ethik.

Der Fragenkreis der ganz besonders guten und gerechten Menschen hat die Gesellschaft und das Interesse der Menschen zu jeder Zeit stark beschäftigt. Ganz berühmt sind die Erzählungen über Heilige, bei denen die Erzählung selbst zur gleichen Zeit die Legitimation zum Heiligwerden enthält. Die Heiligen sind auf ihre Art gerechte Menschen und vermitteln zwischen diesseitigem und jenseitigem Leben. Auch der Held, das Prinzip des Heldenhaftigkeit enthält die Möglichkeit des gerechten Menschen in sich, wie auch die außerordentliche Standhaftigkeit oder die heroische menschliche Reaktion auf destruktive Herausforderungen den Ausnahmestatus der Gerechten demonstrieren kann.

Nach dem Narrativum existierten und existieren auf der Erde in jeder Generation 36 Gerechte. Sie kennen einander nicht und sie wissen nicht einmal, dass sie Gerechte sind (Lamed Wufnik). In dem Moment, in dem sie sich bewusst werden, Gerechte zu sein, sterben sie. Zugleich wird aber an einem anderen Ort ein Gerechter geboren. Ihre (kaum nachvollziehbare) Aufgabe ist es, durch ihre Existenz die Welt vor Gott auszuweisen. Sie sind die versteckten Pfeiler des Universums. Sie sind es, wegen derer Gott, die in ihren Sünden versunkene Menschheit nicht vernichtet. Ohne selbst darum zu wissen, sind sie unsere Erlöser. Selbst der in einem etwas breiteren Rahmen genommene Messianismus, Chiliasmus,[3] sogar in manchen Zügen auch die Gestalt Jesu lässt sich in diesem Gedankenkreis interpretieren.

Die Erzählung über die Gerechten gehört aber auch in die Interpretationswelt der historischen Rolle des Menschen, ihre wahre Natur ist jenseits des Ethischen auch geschichtsphilosophisch, die von diesem Punkte an schon unabsichtlich soziologisch situiert werden muss. In der Geschichtsphilosophie wird in der Tradition die List der Vernunft, die Dualität der welthistorischen und der erhaltenden Persönlichkeit, die Heiligen, der Cäsarismus und der Bonapartismus behandelt. Die Legende der 36 Gerechten gilt als diametraler Gegensatz zu diesen Konzepten. So ist es unvermeidlich, dass bei der Thematisierung der Erzählung der 36 Gerechten stets auch die Fragestellung der Standort des Menschen in der Geschichte hinterfragt wird.

Der Gerechte ist ein charismatischer Mensch, ohne dass er selbst oder andere etwas über seinen charismatischen Charakter wüssten. Der Gerechte rettet die Menschheit. Dieser Heroismus bleibt aber unbekannt. Seine Leistung kann sich öffentlich in ethischen Resultaten nicht ausdrücken, obwohl sie im höchsten Masse ethisch ist. Im Gerechten manifestiert sich das wahre Gesicht der Menschheit, die condition humaine. Dieser Manifestation fehlt aber die Öffentlichkeit. Dies macht unter anderen deutlich, dass zur Ethik immer auch das Moment der Öffentlichkeit unerlässlich ist.

Im Babylonischen Talmud, aber auch in anderen kultischen Texten lässt sich historisch nachweisen, dass die Entstehung dieses Narrativums durch die tiefen moralischen Erschütterungen Babylons herausgelöst worden ist. Diese Konnexion bleibt in Verbindung, auch wenn die Universalität dieser Erzählung darin besteht, dass die Gerechten, die Pfeiler der menschlichen Existenz in jeder Zeit existieren. Große moralische Erschütterungen können jederzeit aufkommen, mehr noch, die Existenz der Gerechten mag auch nicht unbedingt und notwendig nur an die Existenz dieser riesigen moralischen Erschütterungen gebunden sein.[4]

Uns scheint, dass dieses Narrativum zur grundlegenden Interpretation des sozialen Seins führen kann. In der Mystik werden die Konturen der sozialen Ontologie sichtbar. Man muss nicht erst nach Babylon gehen, um eine soziale Gesamtsituation vorzufinden, die die Mitglieder dieser Gesellschaft als äußerste Gefahr erleben. (In diese Gefahr sind ihre Mitglieder auch manchmal gegen ihren Willen als aktive Akteure eingebunden).

Auch wenn wir diese letzten Gefahren der Geschichte nicht auf die Weltgeschichte des 20. Jahrhundert projizieren möchten, so lässt sich dennoch festhalten, dass sich zahlreiche Gemeinschaften und Gesellschaften in der Tat nicht so selten am Abgrund ihrer Existenz erleben müssen. Wirtschaft und Politik sind zyklisch organisiert und jede zyklische Bewegung erreicht von Zeit zu Zeit ihren Tiefpunkt. Im Falle der Wirtschaft geht es in diesen Fällen um Krisen, in Fall des Politischen geht es um die Diktatur oder um den Weltkrieg selbst. Gott, wenn er auch in diesen Fällen vor der Entscheidung stehen muss, die Welt zu vernichten, gerät also nicht nur in einem Fall in eine Situation, in der er nur wegen des Anblicks der Gerechten allein daran denken kann, das fällige Urteil zugunsten der weiteren Existenz der Menschheit positiv aufzuheben.

Somit erweist sich die Legende der Gerechten als Paradigma des gesellschaftlichen Seins par excellence. Damit erhält auch der Status dieses Narrativums eine eigenartige Wendung. Es darf in strengem Sinne des Wortes nicht als historisches Faktum angesehen werden, es gilt aber bei weitem auch nicht als Vergleich, Metapher oder Symbol. Das Narrativum zielt auf das Wesentliche, die Erzählung vertieft sich ins Ontologische und gewinnt dadurch eine zusätzliche Qualifizierung als Existenz.

In diese Tiefe gelangt, werden sämtliche Einzelheiten dieses Narrativums relevant. Unter ethischem Aspekt ist es durchaus relevant, dass die Gerechten selbst nicht wissen dürfen, dass sie Gerechte sind. Das Bewusstsein darüber und die hiermit verbundene Reflexion würde ihrem Handeln die Spontanität nehmen und zu einem Verlust ihrer Standhaftigkeit führen, wodurch sie wiederum ihren wahren Wert in den Augen Gottes einbüßen. Ursache hierfür ist ein sozial-ontologischer Aspekt. Das Bewusstsein des Handelnden und das Wissen der Anderen um diese Taten würde das Werk der Gerechten im Nu mit einem extremen sozialen Status versehen. Sie wären gerade wegen dieser sozialen Kategorisierung gezwungen, selbst inmitten der größten Erschütterungen und Krisen auf Grundlage ihres sozialen Status und nicht nach den Motiven der reinen Menschlichkeit zu handeln! Diese soziale Rolle würde das Charisma der Gerechten eliminieren!

Ebenso bedeutsam ist die Zahl 36. Wir wissen, dass – wie es normalerweise auch erwartet werden konnte – auch andere Zahlen angesprochen worden sind, darüber ganz zu schweigen, dass Abraham mit dem Herrn in expliziter Weise darüber verhandelte, wie viele Gerechte es vermögen, das in Sünde gefallene Volk durch ihre stumme Arbeit zu retten. Aus einer anderen Quelle, die fast wie ein Protokoll existierender Vertreter des Volkes ausschaut, erfahren wir, dass auch die Vertreter des Volkes untereinander die Anzahl der Gerechten diskutiert haben. Obwohl die Zahl 36 Zufall sein mag[5] und obwohl sie rein aus ihrer numerischen Beschaffenheit für eine mehrfache Zahlenmystik geeignet ist, gilt sie grundsätzlich als rational. Es scheint als ob eine (uns nicht mehr zur Verfügung stehende) Überlegung hinter ihrer Auswahl steht. Bedenkt man etwa, dass das damalige Judentum aus 12 Stämmen bestand, so bedeutet diese Zahl, dass wir (und auch die Repräsentanten, sogar auch Gott) aus jedem Stamm mit drei Gerechten rechnen können, was durchaus wahrheitsnah und realitätsgerecht erscheint.

Die im historischen Bewusstsein existierenden Grundnarrative sind von außerordentlicher Komplexität. Sie erfüllen den Traum jedes Philosophen und Moralisten. Sie formulieren äußerst komplexe Zusammenhänge in extremer Prägnanz und Eindeutigkeit. In formaler Sicht erscheint so ein ethisches Narrativum zunächst als Illustration oder Demonstration, als Umschreibung und Exemplar, als Analogie oder als Parabel. Es heißt, es erscheint als alles andere als eine diskursive Bestimmung, geschweige denn eine Definition. Ein eigentümlicher dialektischer Sprung setzt ein. Die Erzählung büßt ihren illustrativen und demonstrativen Charakter ein. Als Illustration wird sie auch zur Definition. Die Demonstration selbst wird zur Bestimmung des Phänomens. All diese Transformationen stammen natürlich aus der Komplexität des zu besprechenden Phänomens, der Sprung selbst wird durch die Kleinarbeit von Jahrtausenden in unzähligen Versionen ausgearbeitet. In der ethischen Kommunikation soll ein Verfahren entstehen, das zu dieser Dialektik führt.

Konfrontiert man die ethische Narrativität, wie sie etwa am Beispiel der 36 Gerechten vor uns erscheint, mit dem wirklichen Zentrum der ethischen Urteilsbildung, so muss sichtbar werden, dass so eine Erzählung auch Fortsetzung und Ausdehnung sowohl der formalen wie auch der materialen Ethik aufgefasst werden kann. Metaphorisch ausgedrückt, gilt die ethische Narrativität als jenes Medium, in welchem die Differenzen sich vereinigen und die Parallelen einander durchkreuzen können.

Die so interpretierte ethische Narrativität lässt sich als Weiterentwicklung der formalen Ethik in der Hinsicht anschauen, dass die Botschaft der Erzählung in ihrer essentiellen Gravitationsrichtung genau die Tathandlug verlangt, die den Vorschriften der Freiheits- und Autonomievorschriften der formalen Ethik entspricht. Das Endergebnis in seiner Gravitation erscheint als eine Bestätigung der formalen Ethik. Die so interpretierte ethische Narrativität lässt sich als Weiterentwicklung der materialen Ethik in der Hinsicht interpretieren, dass das ethische Narrativum in ethischer Sicht „material” ist, auch wenn, und darin besteht das Spezifische, ihr materieller Gehalt, d. h. die Materialität der Ethik gerade mit der Erzählung identisch ist. Die Materialität ist die Erzählung selber.

Zwischen der typischen materialen Ethik und der ethischen Narrativität existiert nur der Unterschied, dass es in der ersten der ethisch Handelnde ist, der die konkrete Situation mit der Welt der materiellen Werte in Verbindung bringt (in den meisten Fällen ist es der einzige Akt des Aufeinanderbeziehens des konkreten Wertes und der konkreten Handlung), während es im Falle des ethischen Narrativums die Interpretation der Geschichte (die ja mit sämtlichen Mitteln der Narrativität befördert wird) ist, die die richtige Wahl in der Gegenüberstellung der Situation und des gegebenen materialen Wertes bestimmt. Diese Abweichung geht wieder auf die grundlegende Komplexität jener Erzählungen zurück, die dann ihre Erklärung und Verbreitung der narrativen Form verdanken können. Denn die betreffende Komplexität kann in diesen Fällen nie auf diesen oder jenen materiellen Wert reduziert werden. Der Weg von der Erzählung zum Wert ist geradliniger und konstruktiver als derselbe von der Beschreibung einer Situation zum Wert.

Die Komplexität der ethisch relevanten Narrativen entsteht nicht selten durch die Grenzfälle des sozialen und des natürlichen Seins. Die Grenzfälle lassen die gut eingespielten Bahnen der ethischen Urteilsbildung und dadurch auch der ethischen Praxis von ihrem ursprünglichen Ort verschieben. Durch diese und in dieser Verschiebung wird die ethische Orientation nicht mehr imstande sein, den der normalen Situation entsprechenden materialen Wert unmittelbar zu wählen. Diese Grenzfälle sind des Öfteren extrem, sie sind tragisch, intellektuell kaum zu bewältigen, unglaublich, gefährlich und nicht zuletzt in sozialer und humaner Sicht selbstdestruktiv. Diese Grenzsituationen ergeben den natürlichen Hintergrund für das Aufkommen der Legende der 36 Gerechten.

Die komplexesten Fälle der ethischen Narrativität beziehen sich auf Situationen, die die normalen Funktionsregeln wohl der formalen wie auch der materialen Ethik desorientieren, wenn nicht gar unmöglich machen. Die besondere Botschaft der Legende der 36 Gerechten fixiert die tiefsten Krisen, den auch positiv wert- und selbstdestruktiven Zustand menschlicher Gesellschaften. Dieser Kreis erreicht an dieser Stelle seinen Ausgangspunkt. Hier verstehen wir, wie das, was am Komplexesten sein kann, am leichtesten verständlich ist. Umgekehrt kann eine scheinbar märchenhaft transparente Geschichte zum holistischen Narrativum werden, welches gerade das weitere Bestehen des Weltganzen erklärt.

Durchaus exakt interpretiert Hannah Arendt diese Legende. Sie hebt hervor, wie „notwendig” das „edle” Verhalten der Gerechten ist und – was gerade unter dem sozialontologischen Aspekt sehr relevant sein wird – ihre Standhaftigkeit ist nicht nur in Situationen entscheidend, in denen die ganze Welt zerbricht und die Sünden und Anomalien eine apokalyptische Dimension ersteigen, sondern auch in Situationen, die eindeutig die „Normalität” des Weltalltags charakterisieren.[6]

Die beiden Deutungsmöglichkeiten stecken und steckten in dem Narrativum über die Gerechten schon von Anfang an. Die eine Möglichkeit ersteht aus der Interpretation der Gerechten im Falle von extremen Katastrophen und Erschütterungen aller Werte. Die zweite Deutungsmöglichkeit bezieht sich auf die welthistorische Normalität.

Kein Zweifel, dass die erste Version ein nahe liegender Bestandteil der Deutung dieses Narrativums ist. Hannah Arendt schließt sich aber an die zweite an, wonach auch der normale Gang der Ereignisse den Heroismus der Gerechten erfordert. Andererseits ist es die wahre Bestätigung der Relevanz des Narrativums, wenn die Standhaftigkeit der Gerechten auch im Zustand der Normalität (der ja in jedem Augenblick in extreme Krisen hinüberschlagen kann) vorgestellt wird. Wir teilen diese Einstellung, vor allem deshalb, weil es gerade unter dem Aspekt der Erzählung über die Gerechten nicht zweckmäßig ist, zwischen „besonderen” und „normalen” Zuständen der Gesellschaft zu unterscheiden. Diese auf den ersten Augenblick erstaunliche Behauptung geht auf ontologische Positionen zurück. Die Gesellschaft ist zwar überhaupt nicht in jedem Augenblick in Gefahr, die Vorstellung und der Begriff der gesellschaftlichen Normalität hat seinen guten Sinn. Es gehört jedoch zum innersten Wesen des sozialen Seins, dass dessen funktionale Reproduktion notwendigerweise immer wieder zu neuen Krisensituationen führen kann. Nicht aus jeder Krisenmöglichkeit wird eine wirkliche Krise. Durch menschliche Intervention, durch Glück oder durch Zufall können viele potentielle Krisen abgewehrt werden. All diese Möglichkeiten sind doch nicht stark genug, dass wir – wie Hannah Arendt – auffallende soziale Anomalien nur durch extreme Krisensituationen erklären. Die Normalität der Krisen ist in die tiefsten Kreise der sozialen Reproduktion eingebaut und aufgehoben.

Der schnelle Übergang zwischen „Normalität” und „Krise” lässt sich an den Systemen „Politik” und „Wirtschaft” ganz besonders anschaulich studieren. Während wir dazu neigen, dieses Hinübergehen im Politischen mit dezidiert negativen Faktoren zu erklären wie etwa Diktaturen oder schlechter demokratischer Erziehung, erscheint derselbe Wandel im Wirtschaftlichen als geradezu „natürlich”, was etwa durch die weit verbreitete Auffassung über die wirtschaftlichen Zyklen problemlos bewiesen werden kann.

Wegen seiner historischen Bedeutung muss André Schwarz-Barts neue Bearbeitung dieses Narrativums unbedingt erwähnt werden.[7] Die historische und kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Romans steht außer Zweifel. Lesern späterer Zeitalter wird dieser Roman aufzeigen können, wie eine junge, vom Holocaust direkt betroffene Generation dachte. Die Elemente dieser Interpretation der unmittelbaren Betroffenheit werden nicht viel später von Gershom Scholem zurechtgerückt. Scholem korrigiert Schwarz-Bart in der Hinsicht, dass nichts weniger an die ursprüngliche Tradition der Gerechten erinnert als dass die Zugehörigkeit zu den 36 Gerechten auch als Familienverbindung interpretiert werden kann.[8] Dieses Argument zielt darauf, dass in diesem Rahmen die spezifische Auserwähltheit eines Gerechten vom Vater auf den Sohn weiter vermittelt wird.

Trotz der Wahrheit dieser Kritik erscheint uns in diesem konkreten historischen Augenblick Schwarz-Barts schriftstellerische Entscheidung doch als nicht irrelevant. Der Ausnahmecharakter der schriftstellerischen Position von Schwarz-Bart scheint uns stark genug sein, dieses Mal einen Bruch mit der langen Tradition der 36 Gerechten zu legitimieren. In welchem Ausmaß diese Modifikation seiner konkreten Zeitgebundenheit entwachsen ist (und wie selbstverständlich er von sehr wichtigen Komponenten der klassischen Erzählung bewusst abgesehen hat), kann János Erdődys von Schwarz-Bart offensichtlich beeinflusster Roman, Die zehn Gerechten von Sodom (Tíz igaz Szodomában) zeigen.[9] Schwarz-Bart durchaus ähnlich, beschwört auch Erdődy in der Form eines Mottos die Grunderzählung der Gerechten herauf. Später weicht er ebenso eindeutig wie Schwarz-Bart vom Grundnarrativum ab. Er drückt sogar auch sehr deutlich aus, dass einzelne Details der ursprünglichen Erzählung für ihn überhaupt nicht unveränderlich sind. Er drückt ferner ebenso die Ansicht aus, dass die ursprüngliche Erzählung genau seine (Erdődys) aktuelle konkrete Geschichte symbolisiert. Er tut es sogar mit einer Attitüde, die verdeutlicht, dass es noch mehrere, vielleicht hunderte oder tausende neue Erzählungen sein könnten, denn die Wahrheit der Grunderzählung hat sich in unendlichen Variationen schon bewahrheitet. Genau wie bei Schwarz-Bart, wird die ursprüngliche Geschichte im Roman explizit reflektiert, die Figuren des Romans besprechen diese Geschichte und interpretieren sie im Zusammenhang ihres konkreten Schicksals (die Gestalten des Romans sind ungarische Juden, die in Russland Arbeitsdienst leisten und eine Gruppe aus ihnen nach Ungarn zurückbeordert wird). In ihrer Reflexion nennen sie Ungarn beispielsweise „unser Sodom”.

Der hervorragende Herausgeber des Ersten Dezenniums des zwanzigsten Jahrhunderts, Kurt Wolff, nannte Karl Kraus, den Redakteur der Fackel, einen gerechten Mann (mit vollem Recht, wenn man die Stellung von Kraus in seinem Wien einigermaßen kennt) und mit ebenso vollkommener Bewusstheit erhebt Wolff die Legende von den Gerechten auf das Niveau der intellektuellen Mythologien seiner Zeit: „Ein Gerechter zu sein, ist Schicksal, vielleicht auch Verdammung. Wer für einen Gerechten geboren ist, hat keine Wahl. Er muss die Wahrheit aussagen, so, wie er sie erkennt”[10]

Im Prozess der ständigen Reformulierung der Legende der Gerechten ist Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan ein besonders Lehrstück. Brecht transformiert hier mit einem einzigen, genial zu nennenden, Kunstgriff die ursprüngliche Erzählung. Er verlegt die gesamte Handlung nach China, in ein Land, welches wegen seiner exotischen Ferne und seiner gleichzeitig ständigen welthistorischen Aktualität auf einen Schlag eine sehr motivierende und suggestive Umgebung für die Grundproblematik bereitet. Nach dieser erfolgreichen „Ver”-legung der Handlung konnte es Brecht sich auch erlauben, sich außerordentlich treu an die Grundgeschichte zu halten. Diese Treue geht so weit, dass die fundamentale Grundgeschichte in diesem Stück unmittelbar zur Handlung wird: Götter gehen nach Sezuan, um zumindest einen Gerechten zu finden! Die Tatsache, dass der gute Mensch von Sezuan eine Frau ist, führt zu einer weiteren „Ver”-legung der ursprünglichen Geschichte. Dies erweist sich zugleich als „Volltreffer”, denn wir müssen anerkennen, dass es stets auch sehr viele gerechte Frauen gab (Hierdurch konnte eine vergessene und vernachlässigte und deshalb sogar neue Dimension des Grundnarrativums erscheinen).

Wegen seiner kritischen Einstellung und Alternativität lässt sich um die Jahrtausendwende Quentin Tarantino mit Bertolt Brecht vergleichen. Seine Filme sind bis jetzt die markantesten Produkte der nicht-esoterischen postmodernen Massenkultur. Er vertritt einen Ansatz, in welchem ein Gesamtentwurf eines Weltzustandes möglich werden kann. Da sein Entwurf inhaltlich davon ausgeht, dass Sünde und Amoralität unzweifelhafte Bestandteile dieses Weltzustandes sind, generiert diese Alltäglichkeit der menschlichen Verkommenheit wie selbstverständlich einen möglichen neuen Gebrauch der Legende der Gerechten. Die Sünde erscheint in dieser Welt im Medium der Kriminalität als großzügiger Organisation. Seine Stadt ist auch ein Sodom, aber der Gedanke der gerechten Menschen wird diesmal nicht von Gott (oder wie bei Brecht: von den Göttern) aufgegriffen. Er geht vielmehr spontan von einem Akteur der organisierten Kriminalität aus. Es ist ein postmoderner Zug, ein allerdings sehr logischer! Es ist auch konsequent, die Idee der gerechten Menschen „von unten” zu erdenken und zu formulieren.

Der professionelle Kriminelle, in dessen Schicksal sich die postmoderne und hyperrale Mischung von Arbeit und Kriminalität untrennbar vermengt, wird plötzlich von den folgenden Erkenntnissen gepackt: „Der Pfad der Gerechten ist auf beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Und ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen, meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe.”[11]

Wegen der einmaligen Botschaft des Narrativums der Gerechten erweisen sich der Reihe nach auch alle seine wesentlichen Bestimmungen als bestimmend und relevant. So erweist sich als gleich relevant, dass wir keine konkreten Bestimmungen nennen können, die es erklären, warum gerade diese Menschen zu den Gerechten werden.

Ebenso bestimmend ist aber unter dem Aspekt der Legende jenes (gerade von Scholem gegen Schwarz-Bart stark gemachte) Moment, dass wir die Gerechten nicht erkennen können. Es liegt auf der Hand, dass jedwede „Bekanntheit” oder jedwedes entsprechende „Vorwissen” wieder Elemente in die Geschichte hineinmischen würde, die dann bei der Beantwortung der Frage nach den Gerechten wieder neue konkrete Ursachen und Motivationen mit sich bringt. Je mehr wir die Motivationen konkretisieren, umso mehr kausale Erklärungsmöglichkeiten kämen in Frage, die alle die Universalität der Legende stark beeinträchtigen würden.

Das Narrativum von den gerechten Menschen vermittelt aber nicht nur mit seiner Botschaft, sondern auch durch seine Existenz zwischen Gott und Mensch. In seinem Medium, in seinem besonderen intellektuellen und sittlichen Raum führt Gott seinen Dialog mit der Menschheit.

Die Menschen müssen sich in vielen Fällen selbst auf den Untergang der Welt vorbereiten. Mit nicht beabsichtigtem schwarzem Humor könnte man sogar sagen, in diesen Fällen würden sie selbst ihren eigenen Untergang nachvollziehen können. Wenn sie es doch überleben und sich (dank der Gerechten) retten können, denken sie konsequenterweise darüber nach, warum sie überlebten. In diesem Denkprozess müssen sie erraten, dass Gott sie gerettet hat. Wenn sie aber weiter darüber nachdenken, welchen Grund der Gott hatte, sie am Leben zu lassen, müssen sie mit der gleichen Konsequenz darauf kommen, dass Gott sie einzig wegen der Gerechten gerettet hat, die sie jedoch nicht kennen (konnten). Aus dieser Perspektive zeigen sich die bekannten Bedingungen wieder ganz logisch und situationsgerecht.

Haben wir vorhin angenommen, dass die Legende von den 36 Gerechten in sozialontologischer Sicht richtig ist, so müssen wir nun sagen, dass sie auch aus theologischer Sicht zutrifft. Sie lässt den göttlichen Willen den Menschen nicht durch vorangehende Offenbarung, sondern durch nacheilende Reflexion erkennen und verstehen. Die nacheilende Reflexion realisiert sich nicht durch die Propheten, sondern in den wirklichen Denkprozessen von jedem einzelnen wirklichen Menschen. Es geht um einen Dialog mit Gott über die Abgründe des Untergangs der Welt.

Anstatt Prophezeiung Reflexion – eine ähnliche Umkehr von grundlegenden Relationen manifestiert sich auch im Charisma der Gerechten. Dieser in unserer Zeit eine große Rolle spielende Begriff gehört zu den wenigen Begriffen, die theologische und politische Inhalte miteinander untrennbar vereinen können.

Wissenschaftslogisch wird bald klar, dass der Begriff des Charismas auch irrational aufgefüllt ist. So sehr wir auch diese Irrationalität zu beseitigen versuchen, es kann nicht restlos gelingen, weil das Phänomen des Charismas im Alltag des Politischen jeden Tag so weitgehend bewahrheitet wird.

Das Charisma der Gerechten – und das ist kein Spiel mit Worten – ist das mehrfache Gegenteil der fundamentalen Definition des Charismas. Einerseits sind und bleiben die Gerechten unbekannt, ihnen kann deshalb auch niemand folgen. Andererseits kann auch niemand ihren „Erfolg”, ihre „Errungenschaften” identifizieren. All das ändert aber nichts daran, dass die Taten und Leistungen der Gerechten charismatisch sind, sie sind untrennbar mit einmaligen menschlichen Qualitäten verbunden. Die Gerechten verfügen demnach nicht über ein negatives Charisma, was sie haben, ist das Negative eines positiv bestimmten Charismas. Nicht das Charisma wird somit negativ, vielmehr in der Negativität der Wahrnehmbarkeit ihrer Eigenschaft erscheint das Positive ihrer Taten.

In Hans Jonas‘ Interpretation erscheint jene Eigenschaft des Charismas der Gerechten, dass es von der Negativität ins Positive und zurück, von der Positivität ins Negative hinüberschlägt. Das Wesentliche dieser Deutung besteht darin, dass Gott nicht allmächtig ist, er konnte den Sieg des Bösen nicht immer verhindern. Gott grenzte seine Macht schon bei der Schöpfung ein, um dem Menschheit Freiheit zu geben. So wird es aber auch unvermeidlich, dass selbst Gott wegen der Herrschaft des Bösen leidet. Gerade die Existenz der Gerechten ist aber der Beweis dafür, dass der Mensch die Freiheit trotzdem handhaben kann. Und gerade die Gerechten vollbringen es, dass Gott, wenn er auf die Welt blickt, doch nicht leiden muss. Den Gerechten ist deshalb zu verdanken, dass Gott die Schöpfung der Menschen nicht bereut. Er legte deren Schicksal in ihre Hände und sie geben (durch die Gerechten) Gott dessen göttliche Wahrheit zurück.[12]

Aus Jonas’ Interpretation heben wir nun nicht so sehr den theologischen, sondern vielmehr den sozialontologischen Bezug hervor, in dieser Sphäre erweisen sich die Gerechten als diesseitige Phänomene, die sich unter den Gegebenheiten der wahren Welt um deren Bestehen sorgen.

Dieser Bezug schafft auch eine neue, bis jetzt noch nicht erwähnte, Relation zwischen Gott und Mensch. Dies wird dann offensichtlich, wenn wir Gottes Verhalten analysieren. Gott verhält sich nämlich ganz so, wie die Menschen. Dadurch demonstriert dieses Narrativum die Grundstellung der Feuerbachschen Religionsphilosophie, in welcher die Eigenschaften Gottes mit denen des menschlichen Wesens übereinstimmen.

Gott denkt und überlegt. Er muss auch daran denken, dass er die Existenz der Welt beenden kann. Diese überlegende Rolle Gottes ist vollkommen anthropomorph, denn sie zeigt ihn als einen Menschen, der handeln muss, vor seiner Entscheidung aber lange nachdenkt. Dies wird auch von den Momenten der Legende unterstützt, und zwar dadurch, dass Abraham einen Dialog mit Gott anfängt, er bietet Gott zunächst 50, später 45, dann 30, 20 und 10 Menschen an, damit die Welt doch nicht untergeht.[13]

Gott handelt als „Mensch” und die Entscheidung als Gottes Tat hilft uns, unsere Taten als menschliche Taten zu verstehen. Es ist nämlich auch für die Menschen mit ontologischer Geltung wahr, dass sie nur denen Gutes tun, die es durch ihrer Taten oder Eigenschaften „verdient” haben, d. h. wenn er sich, metaphorisch gesagt, auch als ein „Gerechter” erweist. Gott handelt aber auch so, wie die Menschen.

Auf diesem Wege führt die Legende der Gerechten auch zur Deutung der „Menschlichkeit”. Das Aufzeigen des wahren Begriffs der Menschlichkeit galt als der letzte Sinn der Legende der Gerechten. Es ist die Aufgabe, die Funktion, die weder die Philosophie, noch die Ethik, aber auch das diskursive Denken in sich nicht erfüllen kann. Der gerechte Mensch ist das Essentielle der Menschheit, sein Anblick löst aus uns einen wahren Handlungszwang aus. An dieser Stelle sind wir aber wie der Gott.



[1] Zur ethischen Narrativitätt bzw. materialen und formalen Ethik s. vom Verf.: Zur Typologie in der Urteilsbildung in der Ethik. in: Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte. Herausgegeben von Christoph Hubig und Hans Poser. XVII. Deutscher Kongress für Philosophie. Leipzig 1996. Band 2. Leipzig, 1996. S. 1608-1613.; Max Schelers "Umsturz der Werte" als Kritik der europäischen Moderne, in: Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft. Bonn, 1997. 129-140. ; Über die Materialisierung der formalen Ethik und die intellektuelle Autonomie. in. Applied Ethics. Papers of the 21st International Wittgenstein Symposium. Volume VI (1). Kirchberg am Wechsel, 1998. 351-357.; Spinozas Ethik in einer möglichen Typologie der Ethik. in: A tűnékeny moralitás – Die flüchtige Moralität. Kaposvár, 2002. 256-268.

[2] Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe, Band VIII, hrsg. von Wilhelm Weichsedel. Frankfurt am Main, 1968. (Suhrkamp) 316, 320. usw.

[3] S. beispielsweise die Vorstellung des „leidenden” Messias: „So spaltet sich bereits in biblischer Zeit das Messiasbild, und im 1./2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung taucht im rabbinisch-talmudischen Schrifttum eine zweite Messiasfigur auf. Dies ist eben der leidende Messias. Er aber entstammt nicht David, sondern Josef. Er ist der Maschiach ben Joseph. Ganz ungleich weniger populär als der strahlende Messias ben David und nur in relativ wenigen Texten aufgenommen, bleibt doch die Erinnerung an den leidenden Messias ben Josef über die Jahrhunderte in den verschiedensten Zweigen jüdischer Literatur wach, in hebräischen, aramäischen und jiddischen Texten.” in: Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Der leidende Messias in der jüdischen Literatur, in: Judaica: Beiträge zum Verstehen des Judentums 54 (1998), S. 132-143.

[4] S.. Babylonian Talmud: Tractate Sanhedrin , Folio 97a

[5] Die Interpretation der Zahl 36 ist sehr vielschichtig, in diesem Versuch können wir nicht ausführlicher zu den einzelnen Stellungnahmen Position beziehen.

[6] „The old Jewish legend about the thirty-six unknown righteous man who always exist and without whom the world go to pieces says the last word about the necessity of such ’quixotique’ behavior in the ordinary course of events.” Ld. Peace ar Armistice in the Near East? in: H.A., The Jewish Writings. Edited by Jerome Kohn and Ron.H. Feldman,. New York, 2007. (Schocken Books). 445.

[7] André Schwarz-Bart: Der Letzte der Gerechten. Übers. Mirjam Josephsohn. S. Fischer, Frankfurt 1960 (zuerst: Le Dernier des Justes. Édition du Seuil, Paris 1959.).

[8] „Der verborgene Gerechte, wenn er irgendetwas ist, ist eben dein und mein Nachbar, dessen wahre Natur uns ewig unergründlich bleibt und über den kein moralisches Urteil abzugeben uns diese Vorstellung ermahnen will.” Ld. Gershom Scholem, Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition, in: Judaica 1, Frankfurt a.M. 1963.

[9] Erdődy János Tíz igaz Szodomában. Budapest, 1962. (Magvető)

[11] S. Pulp Fiction (1994). Regie: Quentin Tarantino. Drehbuch: Roger Avary, Quentin Tarantino. Der im Film vorgetragene Text ist von der angegebenen Bibelstelle (Ezechiel 25:17) deutlich unterschieden. Auf die darüber geführte Diskussion können wir an dieser Stelle nicht eingehen. Wir interpretieren die Abweichung jedenfalls so, dass die Filmemacher die einmalige Bedeutung der Legende der Gerechten deutlich erkannt haben und deren Sprache den eigenen Konzepten angepassten. Dies ist ein weiterer Beweis eben für die Vitalität dieser Erzählung.

[12] Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984), in: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen (st 2279), Frankfurt a.M. 1994, 190-208, 204f.

[13] Genesis, 18.

 

 

 

FEL