FILOZÓFIA

Zoltan Tarr (New York) 

WEBER'S RATIONALISIERUNGS und ENTZAUBERUNGS THESE UND DEREN FOLGE

2023.03.07.

 

Einleitung

"Am Anfang war die Tat," so steht es in Goethes Faust. Am Anfang meiner Ausfuhrungen steht Webers Rationalisierung These um danach auf die Folgen sprechen zu kommen. Zu Beginn soll gesagt werden, dass Weber nie eine eindeutige Formulierung erzielt hat. Er hat die These in seinen zerstreuten Schriften in verschiedenen Fassungen durchgespielt, die dann alle posthum veröffentlicht wurden. Infolgedessen konnte es zu Webers Lebenszeit nie zu einer fach-wissenschaftlichen Diskussion oder Klärung kommen. Es stellt sich die Frage: Wie soll man in diesem Fall verfahren? Die Antwort: Ich werde zuerst versuchen, Webers okzidentale Rationalisierungs-These aus zerstreuten Fragmenten herauszuholen, um sie zu kodifizieren. Anschliessend lege ich mein eigenes Verständnis der These dar. Was die Folgen betrifft, werde ich einige wichtige Interpretations-versuche, Auseinandersetzungen und kritische Entgegnungen erwähnen. Zum Schluss versuche ich eine Bilanz zu ziehen im Lichte der post-Weberschen gesellschaftlich-politisch-historischen Ereignisse.

Wir haben die Entstehungsgeschichte aus Marianne Webers Biographie (S. 348. siehe HANDOUT)

Wie gesagt, Weber präsentierte seine Rationalisierungs These nicht nur in vielen Variationen, sondern auch in verschiedenen Rahmen. Unter anderem finden wir die These in der "Vorbemerkung" zu der drei-Bändigen Religionssoziologie in Hinsicht auf Religion und ökonomische Aktivität im universalgeschichtlichen Rahmen.

Sein unvollendetes Werk, Wirtschaft und Gesellschaft, enthält sogar zwei Versionen der These, die eine in Hinsicht auf menschliche Handlung, und die andere auf Wirtschaftssysteme. In den zwei kleineren, aber wichtigen Arbeiten, "Politik als Beruf" und "Wissenschaft als Beruf" spielt der Begriff "Rationalität" eine wichtige Rolle. Das gleiche gilt fur die sog. "herrschaftssoziologischen" Arbeiten.

Am Anfang der "Vorbemerkung" zur Religionssoziologie findet sich die wichtigste Idee der Weberschen Soziologie:

Universalsgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher-und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch--wie wenigstens wir uns gern vorstellen--in einer Ent-wicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?

Weber gab seiner Auffassung Ausdruck von der Einzigartigkeit und uni-versellen Bedeutung einer besonderen okzidentalen, d.h. westlichen Kultur oder Zivilisation kund. So ist es denn kein Zufall, dass in einem einzigen, seitenlangen Paragraph der "Vorbemerkung," das Wort rational elfmal vorkommt; es erlangt damit die Eigenschaft eines Schlüsselwortes.

Was ist unter dem Wort "Kulturerscheinungen" zu verstehen? Weber hat eine umfassende Liste von denen aufgestellt: Wissen- schaft, Geschichtsschreibung, Staatslehre, Rechtslehre, Kunst, Musik, Architektur, Universitäten, Fachbeamten der modernen Wirtschaft und des modernen Staates, d.h. Bürokratien, und, schliesslich, die "schicksalvollste Macht unseres modernen Lebens": den Kapitalismus mit seiner rational-kapitalistischen Organisation von formal freier Arbeit, Trennung von Haushalt und Betrieb, rationaler Buchführung, und technischer Verwendung wissenschaft-licher Erkenntnisse. Rationalität ist bedingt durch Berechenbarkeit der technisch-entscheidenden Faktoren: die Unterlagen exakter Kalkulation.

Die Schlüsselworte sind rational, Rationalität, Rationalisierung; mit anderen Worten: Kalkulation und Kalkulier-barkeit in allen Insititutionen der Sozialstruktur und in der "Lebenswelt." Weber hat eine Kurzfassung des okzidental-rationalen Kapitalismus in der Wirtschaftsgeschichte gegeben. (Diese war die letzte Vorlesung von Weber an der Universität Munchen,, erhalten durch die Aufzeichnungen der anwesenden Studenten.)

Weber's magnum opus,  Wirtschaft und Gesellschaft ist eine unvollendete Arbeit, worin, laut Marcuse "die Methode der Formal-definitionen, Klassifikationen, Typologien wahre Orgien feiert." Weber Forscher haben seitdem darüber spekuliert und gestritten, wie am Ende das von Weber vollendete Werk hätte aussehen sollen. Für das von uns heute diskutierte Problem des Rationalitätsbegriffes ist das Kapitel, "Rationalität der Wirtschaft" von Interesse. Im folgenden wird eine sehr gekürzte Definition des Begriffes aus diesen Kapitel wiedergegeben:

Als formale Rationalität eines Wirtschaftens soll hier das Mass der ihm technisch möglichen und von ihm wirklich angewendeten Rechnung bezeichnet werden. Formal 'rational' soll ein Wirtschaften je nach dem Mass heissen, in welchem die jeder rationalen Wirtschaft wesentliche 'Vorsorge' sich in zahlenmässigen, 'rechenhaften,' Überlegungen ausdrücken kann und ausdrückt.

Dagegen, fährt Weber fort, ...ist der Begriff der materialen Rationalität durchaus vieldeutig. Er besagt lediglich dies gemeinsame: dass ebendie Betrachtung sich mit der rein formalen . eindeutig fest-stellbaren Tatsache ... nicht begnügt, sondern ethische, politische, usw. Forderungen stellt und darum die Ergebnisse... des Wirtschaftens wertrational oder material zweckrationalbemisst.

Im rein soziologisch-theoretischen Teil von Wirtschaft und Gesellschaft werden die "Bestimmungsgründe sozialen Handelns" er-örtert; Weber macht die Unterscheidung zwischen vier Typen des sozialen Handelns wie folgt: "Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein" als erstens, zweckrational, "durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Aussenwelt, und von anderen Menschen" bestimmt, die als "Bedingungen" oder als "Mittel" benützt für rationale Zwecke; zweitens, wertrational, "durch bewussten Glauben an den ethischen, aesthetischen" oder religiösen"unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens... unab-hängig von Erfolg"; drittens, affektuell, insbesondere emotional, durch "aktuelle Affekte und Gefühlslagen" und viertens, traditional, d.h. durch "eingelebte Gewohnheit."

Obwohl Wissenschaft und Politik weitgehend in der "Vorbemerkung" zur Religionssoziologie behandelt wurden, widmete Weber beiden Themen zwei separate, grossangelegte Aufsätze, mit den Titeln, "Wissenschaft als Beruf" und "Politik als Beruf." Beide Arbeiten sind erweiterte Fassungen jener Vorträge, die Weber 1916 bzw. 1918 vor Münchner Studenten hielt; sie stellen die letzten Zusammenfassungen seiner diesbezüglichen Gedankengänge dar. (siehe dazu die kritische Bemerkungen von Lepsius, Schluchter und Tenbruck)

In Webers Sicht, (Natur)wissenschaft gelte als die quintessen-zielle Rationalität, weil sie zur "Entzauberung der Welt" führe; hier haben wir es mit einer poetischen Formulierung desselben Rationali-tätsbegriffes zu tun. Wie Weber sagt, "der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil und zwar der wichtige Bruchteil, jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen...." Das will heissen, dass in der okzidentalen Kultur sich der Entzauberungsprozess durch Jahrtausende fortgesetzt hat. In "Politik als Beruf" arbeitete Weber die Kontradiktion im Wechselverhältnis der rationalen und irrationalen Elemente heraus, die einmal sich vermischen oder aber miteinander im Kampf stehen. Die wichtigste Problematik, die hier erörtert wird, ist die ideal-typische Darstellung der "drei reinen Typen der legitimen Herrschaft," die wiederum in mehreren Fassungen erhalten blieb. Laut Weber kann ein jede Herrschaft drei Rechtfertigungen, d.h. Legitimationsgründe ausweisen: zuerst gebe es die Autorität des "ewig Gestrigen," die sog. "traditionale Herrschaft, dann die "charismatische Herrschaft," und die Herrschaft "kraft Legalität," d.h. "kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der, durch rational geschaffene Regeln begründeten, sachlichen 'Kompetenz'."

Weber wurde nie müde zu betonen, dass die reinen Typen in der Wirklichkeit freilich nur selten zu finden seien; es gebe nur höchst verwickelte Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser reinen Typen, die sog. "Idealtypen." In dem naturwissenschaftlichen Bereich lässt sich die Verwickeltheit folgendermassen illustrieren: zuerst haben wir die (irrationale) Intuition, gefolgt von rational-systematischer Forschung, die zum Ergebnis, zur Entdeckung führt.

Im Bereich der Politik, nannte Hans Gerth in seiner Interpretation der Weberschen These den Nationalsozialismus "zweibeinig." "Auf der einen Seite," schrieb Gerth, "ist der Nationalsozialismus eine reine Bürokratie (will sagen: rational) im Sinne des Max Weberschen Idealtypus gewesen. ... Auf der anderen Seite war es eine charisma-tische (will sagen: irrationale) Veranstaltung...."

Diese kurze Übersicht wirft die sehr berechtigte Frage auf: Wie stand Weber der Sache der Rationalisierung gegenüber? Diese Frage taucht immer wieder in der Weber-Literatur auf. Ich neige zu der Annahme, dass Weber sehr ambivalente Gefühle an den Tag legte. Auf der einen Seite war er stolz, Sohn der okzidentalen Zivilisation zu sein, und wusste ihre Errungenschaften zu schätzen; auf der anderen Seite, konnte er seine Augen vor ihren negativen Begleitserscheinungen nicht schliessen. Aus diesem Grunde endet seine "Protestantische Ethik" mit der folgenden Bemerkung:

Niemand weiss noch, wer künftig in jenem Gehäuse (des Kapitalismus) wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheueren

Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wieder-geburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber--wenn keins von beiden--mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann alledings könnte für die 'letzten Menschen' dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: 'Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben'. (von Goethe's Faust II zitiert)

Im folgenden werde ich in meiner Diskussion der "Folgen" noch zur Weberschen Kritik und Pessimismus zuruckkommen.

II. Die Folgen: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Es gibt eine beträchtliche Zahl von Intepretationen des Rationalismus-Begriffes von Weber. Die Seyfarth-Schmidt Bibliographie, z.B., die bis 1976 reicht, verzeichnet 47 Titel; es ist anzunehmen, dass sichderen Zahl inzwischen verdoppelt hat. Die kritischen Arbeiten zwischen 1924 und 1943 kamen alle von deutscher Seite; seitdem hat eine sog. "Internationalisierung" --oder besser: Globalisierung--der Weber-Diskussion stattgefunden.

Sowohl zustimmende und auch kritische Interpretationen werden von sehr verschiedenen Standpunkten.

Bezüglich der kritischen Auslegungen kann ich aus zeitlichen Gründen nur eine "Kostprobe" aus dem marxistischen Lager anbieten, nämlich die von Georg Lukács und der sog. Frankfurter Schule. Die Auswahl bezieht sich auf mein eigenes Forschungsgebiet und meine Veröffentlichungen (2 Bücher und viele Artikel).

Im folgenden verfahre ich chronologisch und fange mit Lukács an, vielleicht dem einzigen marxistischen Philosophen, der ernst genommen wurde. Ich stimme mit Leszek Kolakowski überein, der schreibt, dass “Die Gestalt Georg Lukacs' und seine Rolle in der Geschichte des Marxismus sind und werden sicherlich noch lange Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen sein. Einigkeit besteht darüber, dass er [Lukacs] in der Epoche der stalinistischen Orthodoxie der her-vorragendste philosophische Kopf war. Mann kann vielleicht eher sagen: Er war der einzige marxistische Philosoph in jener Zeit.“

Meinerseits habe ich in mehreren Aufsätzen zu beweisen versucht, dass Lukács einen lebenslangen Dialog mit dem Geist Max Webers, d.h., eine anhaltende Auseinandersetzung mit Webers Ideen geführt hat. Ihre intellektuelle Beziehung--und persönliche Freundschaft--geht auf die sog. "Heidelberger Periode" (zwischen 1912 und 1918) zurück, in welcher Zeit Lukács als der einzige ebenbürtige Ge- sprächspartner im Weber-Kreis anerkannt wurde. Auch nach dem 1920 erfolgten Tod von Weber hat Lukács den Dialog weitergeführt. In zahlreichen Auslegungen und, Reflexionen über Webersche Ideen finden wir eine selektive Anwendung bestimmter Begriffe; die beiden dies-bezüglichen wichtigsten Dokumente dieser Auseinandesetzung sind Geschichte und Klassenbewusstsein aus dem Jahre 1923 und Die Zerstörung der Vernunft, veröffentlicht 1954.

In der ersten Phase der Weber-Lukacs Begegnung (1912-18) kann man von "Beziehung, Einfluss und repräsentativer Gegensätzlichkeit" sprechen, um den Untertitel von Judith Marcus' Buch, Thomas Mann und Georg Lukacs zu entlehnen, eine Monographie, die neben der Beziehung von Lukacs zu Mann auch diejenige zu Weber behandelt. (Siehe auch den Briefwechsel, in Georg Lukacs.Selected Correspondence: 1902-1920.)

Weber und Lukács haben gemeinsame Interessen an vielen Problemen gehabt, die "den Intellektuellen zur Zeit auf den Nägeln brannten" (Thomas Mann), wie z.B. Probleme der Ethik, Gewalt, Ent-fremdung, der Macht des Staates, wie auch des Sozialismus, oft mit sehr verschiedenen Vorstellungen möglicher Lösungen. Beim Vorhaben, chronologisch die Rezeptions-und Wirkungsgeschichte der Weberschen These von Rationalisierung und Entzauberung zu verfolgen, scheint die Lukacsche Reaktion um 1915 ein guter Ausgangspunkt zu sein. Wie wir wissen, stellte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen historischen Wendepunkt dar. Die Mehrheit der deutschen Intellektuellen begrüsste den Krieg lebhaft, und Max Weber nannte ihn (nicht anders als Thomas Mann oder Georg Simmel) "ein wunderbares Erlebnis." Webers Empfinden war im Einklang mit seiner Staatssoziologie: der Kern von Webers Staatsbegriff sind Rationalisierung und Gewaltmonopol des Staates. (Siehe die sehr klare Darstellung von Andreas Anters, in Max Webers Theorie des modernen Staates (1995). Anders stand es um Georg Lukacs, damals wohnhaft in Heidelberg, dem Sohn einer Budapester grossbürgerlichen assimilerten jüdischen Familie. Lukacs verdammte mit Leidenschaft den Krieg und erkannte in ihm darin die problematische Natur der westlichen Zivilisation. 50 Jahre später erinnerte er sich so:

Als ich in dieser Zeit meine gefühlsmässige Stellungnahme mir selbst bewusst zu machen versuchte, kam ich zu etwa folgendem Ergebnis: die Mittelmächte werden voraussichtlich Russland schlagen; das kann zum Sturz des Zarismus führen: einver-standen. Es ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Westen gegen Deutschland siegt; wenn das den Untergang der Hohenzollern und der Habsburger zu Folge hat, bin ich ebenfalls einverstanden. Aber dann entsteht die Frage: werrettet uns vor der westlichen Zivilisation?

Diese radikal formulierte, kategorisch verneinde Denkart war nicht die von Weber. Der ethische Standpunkt von Weber war untermauert von seiner begrifflichen Unterscheidung zwischen "Verantwortungs- und Gesinnungsethik," zuerst formuliert in dem Aufsatz, "Zwischen zwei Gesetzen" (1916) und herausgearbeitet in "Politik als Beruf." "Verantwortung" heisst danach, "die verdammte Pflicht und Schuldigkeit vor der Geschichte... vor der Nachwelt, uns (d.h. die Deutschen) der Überschwemmung der ganzen Welt durch jene beiden Mächte entgegenzuwerfen." Welche sind diese zwei Mächte, die bekämpft werden sollen? die "Reglements russicher Beamten und Konventionen der angelsächsischen 'society'."

Da entstand eine nicht überbrückbare Kluft zwischen der Staats-Auffassung von Weber und Lukács. Der letztere liess in seinem Gedanken über Ethik, Staat und Gewalt die Webersche Konzeption der Verantwortungsethik ausser Acht. Lukács schrieb an seinen damaligen Freund, den deutschen Dramatiker Paul Ernst in einer Hegelschen und etwas poetischen Sprache:

Die Macht der Gebilde scheint in stetigem Zunehmen zu sein als das wirklich Seiende. die reelle Macht der Gebilde kann freilich nicht geleugnet werden. Es ist aber eine Todsünde an dem Geist, was das deutsche Denken seit Hegel erfüllt: jede Macht mit meta-physischer Weihe zu versehen. Ja, der Staat ist eine Macht--muss er aber deshalb als Seiendes, im utopischen Sinne der Philosophie--im essentiellen handelnden Sinn der wahren Ethik-anerkannt werden? Ich glaube nicht. (14.4.1915)

Im folgenden erörtert Lukács, worum es ihm hier geht und warum wir es hier mit einer modernen Problematik zu tun haben, nämlich mit einer "neuen Erscheinungsform des alten Konflikts zwischen alter Ethik (Pflichten den Gebilden gegenüber) und zweiter Ethik (Imperativ der Seele)." Es fragt sich, wie eine Lösung vorstellbar sei? Seine Antwort:

Die Rangordnung erhält immer eigentümliche dialektische Komplizierungen, wenn die Seele nicht auf sich, sondern auf die Menschheit gerichtet ist; beim politischen Menschen, beim Revolutionär. Hier muss--um die Seele zu retten--gerade die Seele geopfert werden: man muss, aus einer mystischen Ethik heraus, zum grausamen Realpolitiker werden und das absolute Gebot, das nicht eine Verpflichtung gegen Gebilde ist, das 'Du sollst nicht töten' verletzen. Aber im letzten Wesenkern ist es doch ein uraltes Problem, das vielleicht Hebbels Judith am schärfsten ausspricht: 'Und wenn Gott zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellen würde, was bin ich, dass ich mich ihr entziehen dürfte.' Nur die Situation ist neu, und die Menschen sind neu. (4. Mai 1915) Weber wird bei diesen Überlegungen nicht erwähnt, obwohl Lukcs die vorhergenannte Arbeit über die zwei "Gesetze' bestimmt gekannt hatte.

Die zweite Etappe (1919-30) der Rezeption und Verwendung Weberscher Ideen über Rationalisierung und Kapitalismus erfolgte in der sog. Budapest-Wien Periode von Lukacs, und zwar in der Essay-sammlung Geschichte und Klassenbewusstsein, die 1923 veröffentlicht wurde. Die Arbeit weist eine Synthese von Hegel, Marx und Weber auf. Die Anlehnung an Weber ist durch zahlreiche Zitate und die Anwendung Weberscher Begriffe bestätigt, wie z.B. des Kapitalismus-Begriffs in dem "Verdinglichungs" Essay, der ursprünglich für die östliche marxistische Leserschaft gedacht war.

Istvan Meszaros, ein orthodoxer Lukacs Student klagt uber "the burden of the Weberian influence" und findet "astonishing" die "wholehearted approval" Weberschen Ideen in Lukacs marxistischeen Geschichte und Klassenbewusstsein, wie z.B. die strukturelle Affinität zwischen kapitalistischen Staat und business enterprise.

Lukacs: HANDOUT?

"Thus capitalism has created a form for the state and a system of law corresponding to its needs and harmonising with its own structure. The structural smillarity is so great that no truly perceptive historian of modern capitalism could fail to notice it. Max Weber, for instance, gives this description of the basic lines of of this development: 'Both are, rather quite simiar in their fundamental nature. Viewed sociologically, a 'business concern' is the modern state; the same holds good for a factory: and this, precisely, is what is specific to it historically. And, likewise, the power relations in a business are also of the same kind. The relative independence of the artisan (or cottage craftsman), of the landowninf peasant, the owner of a benefice, the knight and vassal was based on the fact that he himself owned the tools, supplies, financial resources or weapons with the aid of which he fulfilled his economic, political or military function and from which he lived while this duty was being discharged. Similarly, the hierarchic dependence of the worker, the clerk, the technical assistant, the asssistant in an acadmeic institute and the civil servant and soldier has a comparable basis: namely that the tools supplies and financial resources essential both for the business concern and economic survival are in the hands, in the one case, of the entrepreneur and, n the other case, of the political master." /GuK(106/107) 187-HCC 95, GPS 1921, 140-142/

Und naturlich calculation....

 

Dies aber brachte Lukács vehemente Kritik und Leseverbot seitens der Funktionäre des Sowietmarxismus ein. Auf der anderen Seite wurde, Geschichte und Klassen-bewusstsein wie eine Art neo-marxistischer-Bibel gelesen von Seiten der westlichen linken Intellektuellen, (beispielweise der Frankfurter Schule).

Der Hauptessay des Buches, der den Titel "Verdinglichung," tragt brachte den den westlichen Intellektuellen der 20er den Begriff und wurde wieder einmal wie ein Zauberwort empfangen in den 60er. Das Wort selbst kommt bei Marx nur einmal vor (Das Kapital Bd. 3, S. 884) und wurde erst durch Lukács in Umlauf gebracht. Im ersten Band des Kapitals, gibt es eine Analyse des "verdinglichten Bewusstseins," in dem interpersonale Beziehungen den Charakter einer Dinghaftigkeit erhalten. Es handelt sich also um eine genuin Marxsche Idee. Es gelang Lukács, seiner westlichen Leserschaft einen umfunktionierten, marxistisch angehauchten Weber zu vermitteln.

Es wird hier die fortschreitende Rationalisierung der industriellen Produktion und die daraus entstandene Entfremdung diskutiert. Ich glaube, mein Kollege, Joseph Gabel, hat recht wenn er schreibt: "le concept de reification et celui d'alienation sont corollaires.... Nous partons donc de l'hypothese de travail suivance: chaques fois que dans un texte weberian il est question de 'rationalité,' il faut lire 'reification'." (Sociologie de l'Alienation) Ein auch nur flüchtiger Textvergleich zeigt so manche Überein-stimmungen zwischen Weber und Lukács. Zum Beweis soll eine wichtige Stelle aus Webers Erörterungen mit einer aus dem 'Verdinglichungs' Essay vergleichen werden. Weber schreibt:

Dass ... die militärische Disziplin... das ideale Muster für den modernen kapitalistischen Werkstattbetrieb ist, bedarf nicht des besonderen Nachweises. Die Betriebsdisziplin ruht, ... hier völlig auf rationaler Basis, sie kalkuliert zu-nehmend, mit Hilfe geeigneter Messungsmethoden, den einzelnen Arbeiter ebenso, nach seinem Rentabilitätsoptimum, wie irgendein sachliches Produktionsmittel. Die höchsten Triumphe feiert die darauf aufgebaute rationale Abrichtung und Einübung von Arbeitsleistungen bekanntlich in dem amerika-nischen System des 'scientific management,' welches darin die letzten Konsequenzen der Mechanisierung und Disziplinierung des Betriebes zieht. Hier wird der psychophysische Apparat des Menschen völlig den Anforderungen, welche die Aussenwelt, das Werkzeug, die Maschine, kurz die Funktion an ihn stellt, angepasst... seines Rhytmus entkleidet und ... einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhytmisiert.

Weber fügt noch hinzu: "Dieser gesamte Rationalisierungsprozess geht hier wie überall, vor allem auch im staatlichen bürokratischen Apparat, mit der Zentralisation der sachlichen Betriebsmittel in der Verfügungsgewalt des Herrn parallel." (WuG, 686-87)

Wir finden bei Lukács fast ein Echo der Weberschen Gedankengänge, wenn er schreibt, “Mit der modernen, 'psychologischen' Zerlegung des Arbeits-prozesses (Taylor System) ragt diese rationelle Mechanisierung bis in die 'Seele' des Arbeiters hinein: selbst seine psychologischen Eigenschaften werden von seiner Gesamtpersönlichkeit abgetrennt, ihr gegenüber objektiviert, um in rationelle Spezialsysteme eingefügt und hier auf den kalkulatorischen Begriff gebracht werden zu können. Für uns ist das Prinzip, das hierbei zur Geltung gelangt, am wichtigsten: das Prinzipder auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung. (GuK, 262/99-100)

Es ist leicht einzusehen, warum Lukács Weber einen "wirklich klar-blickenden Historiker des modernen Kapitalismus" nennt.

Hier kann ich lediglich drei gewichtige Entgegnungen auf Webers' Rationalisierungs/ Entzauberungs These noch erwähnen:

1) der Philosoph, Karl Löwith, in seiner Arbeit, "Max Weber und Karl Marx," erschienen in Archiv f. Sozialwissenschaften und Sozialpolitik (1932: 175-214)

2) der Soziologe, Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (Leiden, 1935 Kap. I, "Rationale und Irrationale Elemente in unsrer Gesellschaft," S. 11-56), und

3) der Philosoph und Anthropologe, Arnold Gehlen, in dem Aufsatz, "Formen und Schicksale der Ratio," in Blaetter f. die Philosophie (17, 1943/44:2-42)

 

Zwischen den 20er Jahren und Lukacs' dritter Periode steht die Auseinandersetzung mit dem Rationalisierungbegriff- und Prozess seitens der Frankfurter Schule. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfassten gemeinsam die Arbeit, Dialektik der Aufklärung, die ohne Fanfare 1947 beim Quirido Verlag in Amsterdam herausge-kommen war. Zuerst kaum beachtet, wurde das Buch war von der 68er Generation in Deutschland entdeckt; wenigsten für einen Teil der Studenten war es ihre Bibel. Das Buch stellt eine Essaysammlung dar, daher der Untertitel: Philosophische Fragmente. Ihre Hauptthese befindet sich in der "Vorrede" wo steht, “Was wir uns vorgesetzt hatten, war in der Tat nichts weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einem wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“

Die Arbeit entstand 1944 im kalifornischen Exil ihrer Autoren und war zweifellos ihre Reaktion auf die neue Barbarei, die in Auschwitz mündete. Die Arbeit nahm sich nicht vor, eine direkte Antwort auf Webers Rationalisierungs und /Entzauberungsthese zu liefern; man kann sie aber in diesem Sinne lesen und viele Kritiker haben es auch getan. Erstens sagen die Autoren in ihrer Selbstanzeige zum selbstverlegten Band, dass das Buch im allgemeinen bezwecke, die Idee des Rationalismus zu verteidigen. Zweitens, sei nicht die Aufklärung selbst die Quelle des Unheils? Schliesslich war es eine der Hauptideen der Aufklärung, dass der Fortschritt der Menschheit durch die Naturwissenschaften befördert werden wurde. Horkheimer und Adorno legten jetzt die Dialektik dieser geistigen und historischen Bewegung dar. Danach ist die Aufklärung dusrch Herrschaft von ihrer ursprünglich richtigen Bahn abgekommen; das will heissen, dass die Aufklärung "zuinnerst herrschaftlich war," sich in Herrschaft verstrickte und sich mit ihr verbündete. Horkheimer and Adorno meinten aber damit nicht die sog. "Selbstzerstörung" der Aufklärung, sondern, vielmehr dass die Aufklarung nicht die wahre Aufklärung gewesen war. Diese Ausführungen lassen sich aber nur durch Einbeziehen eines weiterem Hauptmotives verständlich machen nämlich, mit dem Motiv der Natur-beherrschung. Wie so manche Kritiker bemerkten, liessen die Autoren jegliche Vergleiche zwischen unterschiedlichen Produktionsweisen, und damit die Diskussion der okzidentalen Rationalisierung ausser Acht, und mit ihr die Webersche Diskussion der Rationalisierung. Horkheimer und Adorno sahen nicht in der Entstehung des Kapitalismus den ent-scheidenden oder verhängnisvollen Vorgang in der Menschheits-geschichte, sondern im Übergang der Menschen zur Natur-beherrschung. In mehreren Essays des Werkes werden diese Gedankengänge druchgespielt, oder, man kann sagen, mystifiziert.

Wir haben die Vorwelt, der Zustand der ersten Natur, oder innere Natur des Menschen, von Triebkräften beherrscht, gefolgt von allmählicher Eindrängen des Denkens, das zuerst das Glücksverlangen der inneren Natur hemmen und die äussere Natur beherrschen und damit zu zerstören suchte. Das Fazit dieses Vorgangs: "der Prozess der Entzauberung, Rationalisierung, Aufklärung, Zivilisation ...verlief so, als ob alles Glück verwerflich sei, weil es in den alten Naturzustand zurückführte." Blosse Natur wurde dadurch zum Sammelbegriff für die Welt vor dem Beginn wirklich rationalen Denkens. Damit aber beginnt eine Verlagerung der Herrschaftidee von der Besorgnis um die Herrschaft über die äussere Natur zur Besorgnis um die Naturbeherreschung am Menschen; dazu gesellte sich laut Adorno eine "anthropologische Theorie des Antisemitismus," in dem sich eine Verhaltensweise manifestierte, die die Analyse einer missgeratenen Zivilisation in den Essays der Dialektik der Aufklärung bestätige. Es wird berichtet, dass andere Mitglieder der sog. Frankfurter Schule konnten nicht viel mit dieser Arbeit anfangen. Horkheimer verteidigte seine und Adornos Position mit der Ausruf: "Unsere Aufgabe im Leben ist theoretische Arbeit." Ich habe in meinem Buch ausgeführt, dass der Band, Dialektik der Aufklärung, nichts mit Soziologie zu tun hat. Sidney Hook, der amerikanische Philosopher teilte mir in einem Brief mit: "Your linking of Horkheimer et.al. to German Naturphilosophie shows real insight. It had not suggested itself to me even though I realized that they Hegelianized Marx to absurdity." (1982) Die Sekundär-literatur ist seitdem enorm gewachsen, über kritische Theorie wie auch über Dialektik der Aufklarung, und sie reicht von serioser Interpretation bis zur Verhöhnung. In meinem Beitrag habe ich meine kritische Sicht dargelegt, wurde aber heute vieles anders formulieren. Für manche, wurde die kritische Theorie der Frankfurter Schule eine Art "Ersatzreligion," wie die Titel einiger Arbeiten zeigen: Die Sünden der Frankfurter Schule (W.R. Beyer), Das Elend der kritischen Theorie (G. Rohrmoser). Immerhin, die Rezeption nicht nur der Dialektik, sondern der kritischen Theorie schlechthin ist sehr unterschiedlich. Besonders die Sprache der Frankfurter Theoretiker, und besonders Adornoss Sprache, stösst viele ab. Man spricht von einem "Adorno-Deutsch." Günter Grass schrieb ein Gedicht mit dem Titel, "Adornos Zunge." Sir Karl Popper sprach vom "Mumbo-jumbo" der Frankfurter Schule und offerierte seine eigene Übersetzung von "Adorno-Deutsch" auf dem berühmten "Positivismus-Streit" Zusammentreffen in Tübingen (1968). Noch kritischer sind manche andere Interpreten: Lucio Colletti, z.B. spricht vom "geistigen Diebstahl" Adornos und Horkheimers, nämlich von Lukacs' Geschichte und Klassenbewusstsein.

Die dritte Etappe der Rezeption der Weberschen Ideen der Rationalisierung und des Kapitalismus fand in Lukács' Moskauer Exil statt. Die Zerstörung der Vernunft(ZdV, Aufbau Verlag, Berlin/Ost, 1954), enthält eine wichtige Auseinandersetzung--sollte man sagen: Abrechnung--mit Weber. Die Rezeption des Lukácschen Werkes im Osten und Westen komplizieren das Bild weiter. Man muss bei jeweiliger Beurteilung dieses Buches den historischen Hintergrund im Auge behalten, nämlich den Hitler-Faschismus in Deutschland und den Stalinismus im Russland. Wie Lukács auf beide von diesen historischen Ereignisse reagierte, ist in der ZdV zu lesen; die Frankfurter Theoretiker schwiegen sich der östlichen Barbarei gegenüber aus. Warum? Dies bleibt eine noch zu beantwortende Frage fur die Forschung zur Frankfurter Schule.

Was die Faschismustheorie von Lukács betrifft, galt sein Hauptinteresse den philosophischen und ideologischen Wurzeln des Faschismus. Nach dem Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung wurde er nie müde, die faschistische Verstellung und Fälschung der "wirklichen deutschen kulturellen Tradition" in Wort und Schrift zu bekämpfen. Zahlreiche Aufsätze, die er in seinem Moskauer (1933-1945 Exil über Hegel, Goethe, Thomas Mann oder Büchner verfasste, sind eigentlich dem Faschismusproblem gewidmet. Während dieser Zeit entstanden drei Monographien, die der Frage nachgingen, wie der Barbarismus im "Lande der Dichter und Denker" Fuss fassen konnte. Seine Überlegungen sind in dem Buch, ZdV, angefangen in Moskau und beendet in Budapest nach 1945, zusammen-gefasst. Was die Entstehungsgeschichte betrifft, Lukács schreibt:

“Dieses Buch entsteht seit über 25 Jahren. Als Schüler Simmels und Diltheys, als Freund Max Webers und Emil Lasks, als begeisterter Leser Stefan Georges und Rilkes habe ich die ganze hier geschilderte Entwicklung selbst miterlebt. Allerdings vor--und bezüglicherweise nach 1918--auf ver-schiedenen Seiten der Barrikade.”

Die von Lukács gestellte Frage lautet: Warum und auf welche Weise konnte der Nationalsozialismus zuerst die Massen und danach einen Teil der deutschen Intelligentsia für sich gewinnen oder, wenigstens, neutralisieren, ihre kritische Grundeinstellung erlahmen? Um eine Antwort zu geben, zeichnet Lukacs nach wie eine Serie von historischen Begebenheiten derartige Entwicklungen be-günstigten, von Thomas Münzers erfolgloser Bauernrevolt bis zu der Reichsgründung von 1870, um endlich in das Debakel der Weimarer Republik zu münden, die eine "Demokratie ohne Demokraten" war.

In seiner Schilderung waren reaktionäre politische Entwicklungen von der Entstehung rückschrittlicher Ideologien begleitet. Im Brennpunkt seiner kritischen Aufmerksamkeit stehen die Repräsentanten des philosophischen Irrationalismus, von Schelling bis Heidegger. Für unser Thema ist das sechste Kapitel von Interesse, den der Titel tragt, "Die deutsche Soziologie der imperialistischen Periode"; hier werden Max und Alfred Weber nebst Tönnies, Mannheim, Speyer, Freyer und Carl Schmitt diskutiert. Waldemar Besson, Historiker der Universitat Erlangen, meinte in seiner ziemlich positiven Rezension, dass das Buch eine "brillante Gesamtdeutung" liefert, und in der Deutung der realen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts steht Lukács, ohne dass er es zugibt, auf den Schultern seines Lehrers Max Weber."

In der Tat, das Buch ist zugleich ein Webersches und ein anti-Webersches Werk. Lukács' theoretische Versuche sind mit Hilfe der Weberschen Terminologie gedacht worden. Von Weber übernommen wurde die grundlegende Begriffsbildung. Wie bereits diskutiert, liegt die Dialektik der Rationalität-Irrationalität der Weberschen Analyse der Weltzivilisationen zugrunde und ist der Leitfaden seiner Darstellung des Entstehens des westlichen Rationalismus, der sich im Kapitalismus, im Nationalstaat, bzw. in politischer Demokratie, in Bürokratie, in den Wissenschaften und Künsten manifestiert. Man soll aber nicht vergessen, dass es Weber war, der sagte: "Man kann...jedes dieser Gebiete unter höchst verschiedenen letzten Gesichstpunkten und Zielrichtungen 'rationalisieren,' und was von einem aus 'rational' ist, kann, vom andern aus betrachtet, 'irrational' sein." /Vorbemerkung, 11/

Lukács stellt die Weberschen Aussage auf den Kopf: Kapitalismus, die Bürokratie, burgerliche/liberale Demokratie und das Bürgertum als "Kulturträger" jener Zivilisation einst progressiven Charakters werden in einer dialektischen Wendung als regressiv und irrational beurteilt. Diese dialektische Wendung wurde durch das Umfunktionieren der Weberschen Kategorien vollzogen. Webers Zweiteilung der formalen und substantiven Rationalität wird in eine der Irrationalität (sag: Kapitalismus) - Rationalität (sag: Sozialismus) umgewandelt. Lukács, der Philosop und der Theoretiker des Überbaus, verfolgt diesen historischen Prozess im Ideenbereich. Er geht so weit, die Webersche Auffassung der Wissenschaft, die "Wertfreiheit der Soziologie," als die "bisher höchste Stufe des Irrationalismus" zu bezeichnen. Trotzdem gibt er zu, dass Weber immer ein energischer Gegner "des gewöhnlichen deutschen Irrationalismus" war. Er hat auch am Ende seines Lebens betont, dass Weber nie ein Nazi geworden wäre und nie anti-Semitisch eingestellt gewesen sei.

Schliesslich sollte man nicht vergessen, dass Lukács versucht hatte, die Ideen mit den sozialen, ökonomischen und politishen Ver-hältnissen und Geschehnissen in Zusammenhang zu bringen. Die Idee erscheint nie als unabhängige Variable. In diesem Sinne stimmt er vollkommen mit Max Weber (und auch Schumpeter) überein. Weber hat es nämlich so formuliert in seiner "Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen:

Interessen (materielle und ideelle) nicht Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die 'Weltbilder,' welche durch 'Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.

Nicht anderes war bezweckt in der Zerstörung, wo an einem multi-kausalen Erklärungsmodell aufgezeigt wird, wie die Ideen der irrationalen Tendenzen und Interesses ihre Rolle gespielt und damit den Boden für den Faschismus vorbereitet hatten.

Wie erwähnt, Lukács bezeichnete die Webersche Auffassung von Wissenschaft, die "Wertfreiheit der Soziologie," als die höchste Stufe des Irrationalismus. Herbert Marcuse und Jürgen Habermas haben viel später diese Kritik wieder aufgegriffen. Damit ist die

1964 erfolgte Konfrontation in Heidelberg gemeint.

Heidelberg 1964: Konfronting Max Weber

Aus Anlass des 100. Geburtstages Max Webers veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Soziologie im Jahre 1964 ihren grössten Kongress. In der unterschiedlichen Interpretation und kontroversen Beurteilung des Weberschen soziologischen Denkens lassen die Referate und Diskussionsbeiträge von Soziologen internationalen Ranges nicht nur die wissenschaftshistorische Gestalt, sondern auch die noch immer aktuelle Bedeutung seines Werkes für die Soziologie erkennen. Die Erörterung der auf den Plenarveranstaltungen des Kongresses behandelten Themen führt über die inhaltliche Analyse der Weberschen Arbeiten zur Frage der Verhaltnis von Theorie und Praxis. Von dieser Frage her eröffnet sich der wissenschaftstheoretische Zugang zu den unterschiedlichen Interpretationen und Beurteilungen von Rationalisierung, Kapitalismus und Sozialismus in den Referaten von Talcott Parsons, Herbert Marcus, Raymond Aron wie auch zu den in den an-schliessenden Diskussionen zum Teil heftig vertretenen kontroversen Auffassungen.

Man kann nicht umhin, mit Hegel übereinzustimmen wenn er sagt, "ein grosser Mann verdammt die Menschen dazu, ihn zu explizieren."

Im folgenden werde ich die Konfrontation zwischen Herbert Marcuse und Benjamin Nelson zusammenfassen, weil sie die anti- und pro-Weberschen Position deutlich repräsentiert.

Herbert Marcuse eröffnet sein Referat mit der Feststellung, in Webers "Analyse des industriellen Kapitalismus sind philosophische, soziologisch-historische und politische Motive grundsätzlich verbunden." So weit alles in Ordnung. Fragwürdig bezeichnet er aber die Webersche These, dass Industrialisierung und Kapitalismus das Schicksal des Abendlandes und entscheidende Verwirklichungen okzidentaler Rationalität, der Idee der Vernunft, seien. Marcuse bezichtigt Weber, er sei motiviert gewesen durch seinen leiden-schaftlichen, "gehässigen Kampf gegen die sozialistischen Versuche von 1918." Er fährt fort mit einer rhetorischen Frage:

Was hätte Max Weber gesagt, wenn er gesehen hätte, wie nicht der Westen, sondern der Osten die abendländische Rationalität im Namen des Sozialismus in ihrer extremsten Weise entfaltet?

Heute wissen wir, dass Weber der bessere Prophet war, wie es eine Briefstelle an Georg Lukács aus dem Jahre 1920 bezeugt; Weber schrieb in bezug auf die Revolutionen von 1918, dass "diese Experimente nur zu einer Diskreditierung des Sozialismus für 100 Jahre führen können und werden." Marcuse verhöhnt Webers "wissenschaftliche Neutralität, oder besser Ohnmacht, gegenüber dem Sollen." Die Grundthemen von Wirtschaft und Gesellschaft, wie Kapitalismus, Rationalität und Herrschaft werden von Marcuse in einen neuen Zusammenhang dargestellt. Nach seiner Meinung ist Webers formale Rationalität kapitalistische Rationalität, eine Herr-schaft über die Natur und die Menschen; "'innerweltliche Askese' ist im Spätkapitalismus keine treibende Kraft mehr," sagt Marcuse weiter, und "in der Entfaltung der kapitalistischen Rationalität wird so Irrationalität zur Vernunft. Auf die rhetorische Frage, "hat Max Weber diese Entwicklung vorausgesagt?" Marcuse anwortet wieder einmal mit einem Nein. Diese Antwort von Marcuse scheint mir--gelinde gesagt--verblüffend. Ich habe vorher schon die Passage von Webers Protestantischer Ethik zitiert, die beweist, dass Weber bereits 1904 diese Entwicklung aufgezeichnet. Laut Weber, ruft die politische Unreife des deutschen Bürgertums den Caesarismus hervor und infolgedessen beschwört die bürgerliche Ratio das irrationale Charisma.

Marcuse setzt seine Kritik der Weberschen Begriffsbildungen fort, und schreibt, Industrialisierung als 'Schicksal,' Herrschaft als 'Schicksal'--Max Webers Schicksalsbegriff zeigt beispielhaft den materialen Inhalt der formalen Analyse, [aber] dieses Schicksal ist gewordenes, und als gewordenes kann es aufgehoben werden.

Marcuse schliesst seine kritischen Auslegungen wie folgt:

Als politische Vernunft ist technische Vernunft geschichtlich... [und] ist die jeweils herrschende gesellschaftliche Vernunft....[daher kann sie] in ihrer Struktur selbst verändert werden. Als technishe Vernunft kann sie zur Technik der Befreiung gemacht werden. Für Max Weber war [aber] diese Möglichkeit --Utopia.

In der darauffolgenden Diskussion, entgegnet Benjamin Nelson, der amerikanische Weber Forscher, auf die negative Kritik von Marcuse mit der Bemerkung:

No social or cultural change, however revolutionary--not even collectivistic planning or total sexual emancipation--will stamp out crime, vice, false consciousness, political domination, economic waste, group prejudice, status oppression, role conflict, religious fanaticismsm and other symptoms of individual and social malaise.

Die Konfrontation hat wieder einmal die Fronten abgezeichnet: Utopia versus Realpolitik, und in diesem Sinne erwacht in uns das Gefühl des deja vu. Wie ich vor ca. 10 Jahren in einem Vortrag in Paris erörterte, bestimmte Utopia vs. Realpolitik die entgegengesetzten Positionen von Lukacs und Weber. Lukács entschied sich für die Utopia, und fur die Kommunistische Partei. Marcuses Weg von der Heidelberger Konfrontation aus mündete in seine Schrift, An Essay on Liberation vom Jahre 1969 und seine Parteinahme für die Studenten-Revolution der späten 60er Jahre. Warum er diesen Weg ging, daruber gibt es nur Spekulationen. Vielleicht erging es ihm so wie Brecht, der darauf beharrte, dass im Sozialismus marxistischer Prägung die einzige Hoffnung der Welt bestehe. Brecht erläuterte seine Ansicht mit der folgenden Parabel:

Ein Arzt in einem Krankenhaus steht zwei gleichermassen mit einer ekelerregenden Geschlechtskrankheit behafteten Patienten gegenüber--einem alten Lebemann und einer schwangeren Strassen dirne. Er hat aber nur so viel Penizillin zur Verfügung, um einen von diesen beiden Patienten zu retten. Wird er da nicht das Mädchen retten müssen , weil doch bei ihr zumindest die Chance besteht, dass sie ein gesundes Kind in die Welt setzen wird?

Brecht selbst hat sich entschieden, das verrottete Ulbricht Regime zu unterstützen, denn es hatte wenigstens theoretisch die Absicht, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen. Marcuse erwog die theoretische Möglichkeit, dass die technische Vernunft "zur Technik der Befreiung gemacht werden" könne. die Möglichkeit war Utopie.

Zum Schluss:

Im Jahre 1947 stellten Horkheimer und Adorno die Frage: "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzu-treten, in eine neue Art von Barbarei versinkt"? (DA, S.5)

Im Jahre 1954 war Lukács der Frage nachgegangen, wie "die Barbarei im Lande der Dichter und Denker" Fuss fassen konnte, und 1995 gab Joachim Fest, Autor der besten Hitler-Biographie, seinem Essay in der FAZ (Okt. 7) den Titel: "Zeitgenosse Hitler. Versuch, das Unbegreifliche begreifbar zu machen."

Ich habe als junger Mensch Hitler, bzw. Nazionalsozialismus noch selbst erlebt. Seit 50 Jahren versuche ich "das Unbegreifliche" zu begreifen und begreifbar zu machen; bis jetzt habe ich es noch nicht geschafft und weiss nicht, ob es mir je gelingen wird. Ich uberlasse es ihnen, der jungen Generation, gesegnet mit mehr Distnz und unbelastet von personlichen Erlebnissen, die Frage zu beantworten, warum die Menscheit in eine neue Barbarei versank und die Barbarei Fuss fassenkonnte.Vielleicht werden Sie imstande sein, das Unbegreifliche begreifbar zu machen.

So habe ich meinen Vortrag an der Ecole Normale Superieure in Paris in November 1995 beendet.

 

 

FEL