IDENTITÁS

Dr. Zoltán Tarr und Prof. Judith T. Marcus(New York)

Georg Lukács zur Judenfrage

Der Begriff  “Judenfrage” wurde nicht von Adolf Hitler sondern von Karl Marx eingeführt, der in seinem Jugendpamphlet “Zur Judenfrage” (1843/44) den berühmten Schlusssatz schrieb: “Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.”

 

Das äusserst komplizierte Problem, “wer ein Jude ist,” war schon oft diskutiert worden. Sogar eine nur flüchtige Übersicht würde einen eigenen Vortrag füllen. Max Weber schrieb: “Nation ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann,” und er setzte fort: “Das Problem, ob wir die Juden als Nation bezeichnen dürfen, ist alt; es wurde meist negativ, jedenfalls aber nach Art und Mass verschieden beantwortet...” [1]

 

Im Fischer Lexikon Staat und Politik (1957) lesen wir: “Unter dem Wort Judenfrage werden  politische, soziale, wirtschaftliche, theologische und - soweit nicht eine völlige Emanzipation durchgeführt ist -rechtliche Probleme zusammengefasst, die sich ausserhalb des Staates Israel aus den Beziehungen der als ‘Juden’ bezeichneten Angehörigen dieser Minoritätsgruppe zu der übrigen Bevölkerung ergeben.”[2]

 

Die Sache muss historisch-soziologisch betrachtet werden. Zum Beispiel bedeutete die Judenfrage für Marx die Emanzipation der Juden; die Frage bleibt: wie sei die Definition zu verstehen und weiter: was sei zu tun nach der Emanzipation?

 

Europäische Juden, Ost und West, waren auf der Suche nach der Lösung der Judenfrage und Identität und in vielen Faellen die Dilemma stellte sich so: Assimilation oder Rueckkehr zum Judentum.   Die Judenfrage wie sie um die Jahrhundertwende in Berlin und Budapest in Umfragen gestellt wurde, hat sich sehr verschiedene Stellungnahmen erbracht. Wenn man nun die drei zeitgenössischen jüdischen Philosophen, Buber, Rosenzweig und Lukács ins Auge nimmt, wird man der Unterschiedlichkeit der Antworten und Erwägungen wahr. Die Aspekte ihrer Erwägungen und Antworten stellen eine Forschungslücke dar, die noch zu schliessen sei.

 

Gewiss, die Rosenzweig –Buber - Beziehung ist durch zahlreiche Publikationen bekannt geworden. Neulich hat man die Buber-Lukács - Beziehung entdeckt, wie hier in der Folge erörtert wird. Anders ist es mit der Lukacs-Rosenzweig - Beziehung. Eines ist bekannt: beide haben sich einen Zeitlang Gedanken über Konvertierung zum Christentum gemacht á la Heine, als entrée billet zur westlichen  Zivilisation. Immerhin: Rosenzweig machte den Rückkehr zum Judentum und Lukács konvertierte zum Bolschewismus.

 

Zu unserem Thema heute: wie wurde die Judenfrage in Ungarn um die Jahrhundertwende beantwortet? Die Sache wurde getrennt von der Frage der ethnischen Nationalitäten/Minderheiten behandelt, obwohl sie in Wirklichkeit mit ihr verknüpft war. Die soziologische Zeitschrift  20. század (20.Jh) veranstaltete zwei Umfragen unter prominenten Intellektuellen und Sozial-wissenschaftlern; eine über die Judenfrage (1917) und die andere über die Nationalitätenfrage (1918). Warum waren separate Umfragen nötig? Beide können als gesonderte Probleme aufgefasst werden. Ethnische Minderheiten waren Volksgruppen mit eigener Sprache und Autonomie-Bestrebungen. Die Juden sprachen ungarisch und deutsch (nicht jiddisch!) und wurden demzufolge nicht als ethnische Minderheit  angesehen. Auch in den Statistiken wurden sie nicht als solche erfasst. Darüber hinaus formulierten die Juden auch keine Bestrebungen für einen eigenen Staat im Donauraum. Lukács selbst hat einen interessanten Beitrag zur Nationalitätenfrage geliefert, aber keinen zur Judenfrage.

 

Der Anlass für die oben erwähnte Umfrage war ein Buch von Péter Ágoston, Der Weg der Juden (A zsidók utja, Nagyvarad, 1917). Der Verfasser war nicht jüdisch, sondern stammte aus einer schwäbischen Familie. Er war eine prominente Person in den jüdischen intellektuellen Kreisen in Nagyvarad/Oradea und spielte eine wichtige Rolle in der 2. Reformgeneration.[3]   Ein zionistischer Beobachter bezeichnete Ágoston 1917 als “einen freimauerischen, progressiven und darum einen quasi-jüdischen Autor.” Ágoston war Sozialist und attacktierte den (jüdischen) Kapitalismus, aber durch seinen Stil erweckte er den Eindruck des Antisemitismus und verursachte einen Aufruhr, der den Anlass zur Umfrage bildete.

 

Nach diesen einleitenden Bemerkungen kommen wir jetzt zu Lukács. Das Thema “Lukács zur Judenfrage” ist ein wichtiger Aspekt im 70-jährigen Lebenswerk des ungarischen Philosophen Georg Lukács (1885-1971).

 

Während dieser 70 Jahre trat Lukács als bürgerlicher Kulturkritiker, als kommunistischer Revolutionär, bzw. als marxistischer Denker hervor. Sieht man diese Entwicklung in ihrem geschichtlichen Zusammenhang, erscheint Lukács als Philosoph der europäischen marxistisch-sozialistischen Bewegung. Ich stimme mit Leszek Kolakowski überein wenn er schreibt:

 

“Die Gestalt Lukács’ und seine Rolle in der Geschichte des Marxismus sind und werden sicherlich noch lange Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen sein. Einigkeit besteht darüber, dass er in der Epoche der stalinistischen Orthodoxie der hervorragendste philosophische Kopf war. Man kann vielleicht eher sagen: Er war der einzige marxistische Philosoph in jener Zeit.”[4]

 

Trotz der schier unübersehbaren Menge von Sekundärliteratur zu Georg Lukács gibt es bislang keine seriöse Arbeit, die das Thema “Georg Lukács zur Judenfrage” untersucht hat.[5]  Lukács selbst machte nur kurze Bemerkungen über diesen Aspekt seines Lebens in Interviews und autobiographischen Skizzen. Schon der junge Lukács schrieb: “Sokrates, der Mensch, ist hinter seiner Philosophie verschwunden,” und der alte Lukács bemerkte: “Ein Gelehrter soll als Person hinter seinem Werke verschwinden.”

 

Wenn nach seiner “religiösen Zeit” befragt, blieb Lukács die Antwort meist schuldig: er beschloss, sich nicht mehr zu erinnern. Verdrängung? Doch es gibt Ansätze, die uns berechtigen, diesem biographischen Aspekt nachzugehen. George Steiner, der aus Wien stammender jüdische Literaturwissenschaftler und  persönlich mit Lukács bekannt war, schrieb: “Lukács was deep-rooted. He was curtly dismissive in reference to his own Judaism, but a Jew to the tip of his finger...he is one of the tragic constellation --Ernst Bloch, Walter Benjamin, Adorno, Herbert Marcuse--of Jewish abstractionists, possessed by a messianic rage for logic, for systematic order in the social condition of man.”[6]  Wie bekannt schrieb Adorno 1922 nach einem Besuch bei Lukács in Wien an Siegfried Kracauer: “Mein erster Eindruck war gross und tief, ein kleiner, zarter, ungeschickt blonder Ostjude [sic!] mit einer talmudischen Nase und wunderbaren, unergründlichen Augen...”[7]

 

Interpretationen des Lukács’schen Oeuvres gehen in verschiedene Richtungen. Manche sehen ihn als deutschen Gelehrten, weil die meisten seiner Schriften auf deutsch und über deutsche Themen in Deutschland erschienen. In der jüngsten Zeit versuchen ungarische Interpretationen ihn für das ungarische Geistesleben zurückzugewinnen. Sie betonen Lukács’ ungarische Wurzeln und beschreiben seine Teilnahme am ungarischen kulturellen und politischen Leben. Die sog. Judenfrage war in Ungarn zwischen 1949 und 1989 Tabu - und damit waren auch die jüdische Herkunft und bestimmte Aspekte des Lukácsschen Werkes ebenfalls Tabu. 

 

Nach der Wende 1989  versuchten ungarische Wissenschaftler mit der westlichen Forschung gleichzuziehen. Für diejenigen aber, die sich für Geschichte und Soziologie des Judentums interessieren, war Lukács  kein Thema, da er mehrfach konvertierte, zunächst von Judentum zum Christentum und später zum Bolschewismus.

 

Wenn man dem Rat von Lukács folgt: “Ich bin der Ansicht, meine Entwicklung ist Schritt für Schritt vor sich gegangen, und ich glaube, wenn man sich damit befasst, dann sollte man das am besten chronologisch tun, denn die Dinge hängen sehr stark in meinem Leben zusammen”[8], dann müssen wir mit den Tatsachen beginnen.

 

In den autobiographischen Skizzen, die Lukács in den letzten Monaten seine Lebens schrieb, steht über Kindheit und Schule der folgende Satz: “Aus rein jüdischer Familie...”

 

In einem Interview mit István Eörsi wurde er über diese Aussage befragt. Lukács antwortete: “Den Familien aus der Leopoldstadt waren religiöse Fragen vollkommen gleichgültig. Demenstsprechend interessierte uns die Religion eigentlich nur insofern, als sie ein Teil des häuslichen Protokolls war, als sie bei der Eheschliessung und bei der Abwicklung sonstiger Zeremonien eine Rolle spielte. Ich weiss nicht, ob ich schon jene Anekdote erzählt habe, dass mein Vater am Anfang der zionistischen Bewegung sagte, dass er bei der Konstitution des jüdischen Staats Konsul in Budapest sein wolle. Mit einem Wort, bei uns herrschte der jüdischen Religion gegenüber vollkommene Gleichgültigkeit.”[9]

 

Was sollte historisch-soziologisch gesehen diese “rein jüdische Familie” um die Jahrhundertwende in Budapest bedeuten? Die väterlichen Grosseltern von Lukács wohnten in der südungarischen Stadt Szeged. Der Grossvater Jakob Loewinger war Deckenmeister von Beruf, heiratete eine Julia Pollak. Sie gehörten wahrscheinlich zu jener Welle der jüdischer Einwanderer, die schon vor dem Ausgleich mit Österreich von 1867 nach Ungarn gekommen waren, und die sich, wirtschaftlich und politisch, in das existierende gesellschaftliche System assimilieren wollten.  In den Lukács-Biographien wird immer ein “Talmudist” in der Familie erwähnt, der sich nicht um seine Familie, sondern nur um die “Schrift” gekümmert haben sollte. Lukács soll gesagt haben, er habe seine philosophische Neigung bestimmt von diesem Onkel geerbt.[10]

 

Lukács’ Vater, József Loewinger, war zuerst ein Bankangestellter, der autodidaktisch Sprachen, Ökonomie und Geschichte studierte. Als Achtzehnjähriger wurde er bei einer Pester Bank leitender Korrespondent und mit 24 Jahren schon Direktor einer Pester Bankfiliale. Anfang der 80er Jahren heiratete er Adele Wertheimer aus Wien.

 

Ein wichtiger Aspekt der Assimilation war, dass die Denk- und Lebensweise der in Ungarn lebenden Deutschen und Juden für die kapitalistische Entwicklung viel eher geeignet war als die des ungarischen Adels. Darüber hinaus, konnte man sich nicht an das ganze Ungartum assimilieren, sondern nur an einzelne Klassen, Schichten. Der aus Ungarn stammende und später in Israel lebende Jakob Katz schrieb in seiner Dissertation: “Jews have not assimilated into ‘the German people,’ but into a certain layer of it, the newly emerged middle class.”[11] 

 

József Loewinger war von der Möglichkeit der vollständigen Assimilation überzeugt, liess seinen Namen magyarisieren und hiess danach Lukács. 1899 wurde ihm von Kaiser Franz Joseph der Adelstitel zugesprochen, als szegedi Lukács. Lukács’ Jugendschriften, wie Die Seele und die Formen (1911), wurden unter dem Namen von Lukács veröffentlicht. Die Taufe war der nächste Schritt im Assimilations- prozess. 1907 konvertierte die Familie zur evangelisch-lutherischen Religion. (Wie schon Heinrich Heine bemerkte: das war die “Eintrittskarte” in die westliche Zivilisation.) Im Laufe einer Konversation zwischen Vater Lukács und Bernát Alexander anlässlich Georg’s vergeblicher Bewerbung an der Budapester Universität sollte Alexander bemerkt haben, dass Religion wichtiger als die Qualifikation sei. Darauf sagte Vater Lukács: “aber der Gyuri ist kein Jude mehr,” d.h. er war getauft. Ich glaube, die Zuständigen für die Berufung Lukács’ hatten ähnliche Gedanken wie diejenigen, die gegen Simmels Berufung nach Heidelberg waren. Wie bekannt liest man in dem berühmten Brief von dem Historiker Dietrich Schaefer an den Minister Boehm: “Ob Prof. Simmel getauft ist oder nicht, weiss ich nicht,habe es auch nicht erfragen wollen. Er ist aber Israelit durch und durch, in seiner äusseren Erscheinung, in seinem Auftreten und seiner Geistesart...” [12]

 

Lukács besuchte das evangelisch-lutherische Gymnasium und erinnerte sich wie folgt:

 

“Am evangelischen Gymnasium war die Leopoldstadt die Aristokratie. Ich spielte dort nie als Jude eine Rolle, sondern als Leopoldstädter Jüngling, der an dieser Schule als Aristokrat galt. Folglich tauchten die Fragen des Judentums nicht auf. Dass ich Jude bin, wusste ich immer, doch hatte das niemals wesentlichen Einfluss auf meine Entwicklung...Ich nahm mein Judentum als eine Tatsache der Geburt hin, und damit war die Sache erledigt...Natürlich wurden im damaligen Ungarn zwischen einem Juden und einem Nichtjuden Unterschiede gemacht...In der nächsten Generation, bereits nach der Diktatur [1919], war das eine viel schwierigere Frage. Vor der Diktatur spielte das keine ernstzunehmende Rolle.”[13]

 

Die erste Schrift des 17jährigen Gymnasiasten, ein Theaterbericht von 1902, enthält eine ganz bewusste Stellungnahme zum Judentum und zur jüdischen Persönlichkeit. In dem Theaterstück  A föld (Der Boden) wird eine wichtige soziale Frage des damaligen Ungarns behandelt, die Bodenfrage.  Lukács lobt, daß der Autor mit seinem Stück das typische Drama des heutigen Ungarn geschaffen habe. Das Essentielle in Lukács’ Theaterkritik galt jedoch dem jüdischen Aspekt. Lukács meinte, dass die Darstellung der verschiedenen Typen von Bauern akzeptabel, die der Juden aber  schlecht gelungen sei. Wenn der Verfasser selbst keine Juden gekannt hat, so hätte er nur die Leitartikel einer nichtjüdischen Zeitung zu lesen brauchen, um zu erfahren, dass der Jude ein charakterloser Wucherer und Blutsäuger ist, [und wäre nicht in Ihrem Stück der Fall, das sein Land mit Verlust verkauft hatte??]. Und keiner im Theater hat darüber gelacht, bemerkt Lukács. Er fährt fort: “Der Jude kann herzlos, Wucherer usw., braucht nicht unbedingt so sein, er hat aber jedenfalls die Charakterzüge: scharfsinnig, Strenge, und keinesweg dumm, sogar im Gegenteil: in Geldfragen...”[14]

 

Wie bekannt, waren die Juden in Ungarn in den Städten stark vertreten. 1910 waren in Budapest mehr als 50% der Grossindustriellen, der Grosshändler, der leitenden Finanzleute, der Aerzte und der Juristen Juden, obwohl ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung in Ungarn etwa 5% betrug. Um die Jahrhundertwende folgte die Eroberung des Landbesitzes. Paul Szende schrieb 1920: “15 percent of the big landlords and big tenants are Jews.”[15]

 

Lukács Meisters Wanderjahre: 1911-1945. 

 

Nach den gescheiterten Plänen für eine Universitätslaufbahn in Budapest ging Lukács erst nach Florenz und später nach Heidelberg, um an seiner Habilitationsschrift mit Max Webers Hilfe und der grosszügigen finanziellen Unterstützung (10,000 ReichsMark/Jahr) seines Vaters zu arbeiten. Der Vater schrieb 1909: “Du sagst es selbst, dass ich Dir grosszügige Freiheit bei Deiner Entwicklung gewähre. Ich tue das bewusst, weil ich Dir grenzenlos vertraue und Dich unendlich liebe. Ich will alle Opfer bringen, um Dich gross, anerkannt, berühmt werden zu sehen, es wird mein grösstes Glück sein, wenn es über mich heisst, ich sei der Vater von Georg Lukács.”[16]     Darin ähnelt Lukács’ Situation der von vielen jüdischen Söhnen aus gutbürgerlichem Hause wie Hannah Arendt schrieb: “Benjamin ...war typisch für die ganze Schicht deutsch-jüdischer Intellektueller...Die Voraussetzung war die Mentalität der Väter, die, selbst erfolgreiche Geschäftsleute, von den eigenen Erfolgen nicht allzu viel hielten und davon träumten, dass ihre Söhne zu Höherem berufen sein würden...”[17]

 

Während seiner “Wanderjahre” wurde Lukács’ Interesse an jüdischen Sachen verstärkt. Lukács’ Freund Béla Balázs erwähnt, dass in Lukács’ Denken eine Wende eingetreten sei, die er folgendermassen definiert: “Gyuris neue Philosophie der Messianismus. Die homogene Welt als Erlösungziel...Seine grosse Wandlung zum Ethischen es wird das Zentrum und das Ziel seines Lebens sein...Gyuri entdeckt den Juden in sich! Suche nach seinen Vorfahren. Die Sekte des Chassidim: Baalschem. Auch er hat jetzt seine Ahnen und seine Rasse gefunden...”[18]

Zu dieser Zeit verkehrte Lukács mit Martin Buber,  besuchte ihm in seinem Heppensheimer Heim,  korrespondierte mit ihm und schrieb eine Rezension in der ungarishen Zeitschrift Szellem über die Buber- Publikationen, Die Legende des Baalschem und Die Geschichte des Rabbi Nachmann, in der zu lesen ist: “Das Hauptverdienst dieser Bücher liegt darin, dass sie dem berechtigt scheinenden Vorurteil ein Ende setzen, die metaphysischen Quellen des Judentums seien in der Neuzeit versiegt; infolgedessen könne es nur ‘scharfgeistige ,’ ‘geistreiche’ Denker produzieren, sei aber nicht imstande, ursprüngliche, schöpferische Genies hervorbringen...” [19]

 

Da Lukács zu dieser Zeit in Heidelberg lebte, verkehrte er u.a. mit Weber, Simmel und Buber, es bleibt ein Rätsel, dass man keinen Hinweis an Rosenzweig finden kann. Gewiss, der Stern der Erloesung erschien 1921 als Lukács schon in seiner Wiener Exil andersartig betaetigt war.

 

Der Versuch einer akademischen Laufbahn auch in Deutschland war gescheitert. Der Dekan der Universität Heidelberg schrieb an Lukács: “Ich erlaube mir Ihnen mitzuteilen, dass die philosophische Fakultät unter den gegenwärtigen Zeitumständen einen Ausländer, zumal einen ungarischen Staatsangehörigen, zur Habilitation nicht zulassen darf.”(7.12.18)[20]

 

Wir wissen von Marianne Weber, Paul Honigsheim und Karl Jaspers, daß Weber fasziniert war von östlichen Studenten. Marianne Weber schreibt: “Vom Gegenpol der Weltanschauung kamen auch einige junge östliche Philosophen, die man um diese Zeit kennenlernte, vor allem der Ungar Georg von Lukacz /sic!/ mit dem Webers sich nahe befreundeten.” In dem sog. Weber-Kreis “nur einige Gäste, wie etwa Gundolf oder Lukács besitzen eine solche Meisterschaft im Ausdruck ihrer Geistigkeit, dass sie zu selbstständigen Kristallisationspunkten werden.” [21] Karl Jaspers äusserte sich über den Eindruck, den Lukács und Bloch auf ihn machten: “Lukács galt manchen als eine Art Heiliger...Bloch war eher ein elementarer, ganz aufrichtiger Junge, der durch seine Wärme und Unbefangenheit...Sympathien erweckte. Man sprach in Heidelberg von beiden. Der Philosoph Lask machte den Witz: Wer sind die vier Evangelisten: Matthaeus, Marcus, Lukacz und Bloch...”[22]

 

1918 beantwortete Lukács in Budapest eine Umfrage mit der Aufzählung der Bücher, die einen entscheidenden Einfluss auf sein bisheriges Leben ausübten. Lukács schrieb: “Das erste Buch mit einem bleibenden Eindruck auf mich war Ilias...das ich als  zehnjähriges Kind las...Andere Bücher, die ich als Kind las, machten keinen tiefen Eindruck, mit der Ausnahme der Genesis, das ich als 13jähriger las und das in mir eine religiöse Krise verursachte.”[23]

 

Ende November 1918 kehrte Lukács nach Budapest zurück und schloss sich der neugegründete KP an, wurde stellvertretender Komissar für Erziehungswesen in der Räterepublik, die unter der Leitung jüdischer Intellektuellen stand-- ähnlich wie in der Räterepublik in Bayern. Der Augenzeuge Max Weber bemerkte 1919, dass es bedauerlich sei, dass “in jener Zeit so viele Juden unter den revolutionären Führern waren.” Die Erbitterung der Bevölkerung über die Revolutionäre und ihre “fremdländischen jüdischen Anführer war gross,” berichtete auch Marianne Weber.

Thomas Mann schrieb: “München, wie Bayern regiert von jüdischen Literaten. Wie lange wird es sich das gefallen lassen?...Das ist die Revolution! Es handelt sich so gut wie ausschliesslich um Juden.”[24]

 

1919, nach dem Scheitern der Räterepublik in Ungarn, folgte für Lukács die Emigration nach Wien, und die Wanderjahre von “Meister Georg” begannen. Der sog. Sonntagskreis jüdischer Intellektueller um

Lukács in Budapest wurde in Wien rekonstruiert. Lukács war in Literatur und Politik tätig und schrieb ca. 50 Aufsätze, Rezensionen und sein magnum opus Geschichte und Klassenbewusstsein (GuK) mit

dem Essay “Verdinglichung” über das Thema der Entfremdung, --ein Thema sehr in der jüdischen Tradition. Es ist kein Zufall, dass von allen Marxinterpretationen das Thema der Enfremdung hauptsächlich von jüdischen Intellektuellen aufgegriffen wurde. Karl Loewith’s Max Weber und Karl Marx hat ein Kapitel mit dem Titel, “Marx’s Interpretation of the Bourgeois-Capitalist World in Terms of Human ‘Self-Alienation.’”[25]

 

Jacob Taubes wurde in seiner Dissertation (zugleich sein magnum opus) Abendländische Eschatologie (1947) von GuK beeinflusst. Er hatte Lukács nach Zürich eingeladen, und Lukács’ letzter Brief war an Taubes  gerichtet. In den jüdisch-sozialistischen intellektuellen Kreisen von New York wurde in den 60er und 70er Jahren auch Lukács gut aufgenommen. Joseph Maier, Freund von Max Horkheimer, schreibt in seinem Aufsatz “Georg Lukács and the Frankfurt Shool: A Case of Secular Messianism”: “Lukács shared with the Frankfurt School writers, above all, a full-blown philosophy of history as a history of fulfillment and salvation,” und Maier postuliert “the possibility of the tracing back the inspiration of both Lukács and the Frankfurt School authors to Jewish mysticism and messianism.” [26]

 

Als Lukács in seinem Wiener Exil das politische Programm der sog. demokratischen Diktatur ausarbeitete, nannte er das “Die Blum Thesen.” Blum, ein typischer jüdischer Name, war sein Deckname. (Der jüdische Held in James Joyces Ulysses Roman heisst auch Bloom und stammt aus Ungarn.)

 

Während seines Wiener Exils traf Lukács Theodor Adorno und Thomas Mann; dessen Ehefrau, Katja Mann schrieb über das Treffen in ihren Memoiren:

 

“… Naphta gab es nicht. Naphta ist, so wie er ist, eine erfundene Figur. Aber im Jahr 1922 waren wir in Wien. Wir wohnten im Hotel Imperial, und da besuchte uns Georg Lukács, der in Wien im Exil lebte,….als er mir das Kapitel über Naphta vorlas mit der Schilderung seiner Person, sagte ich: Hast du da eigentlich an Lukács gedacht?…Naphta erinnert mich an ihn… Beabsichtigt habe ich das gar nicht, aber es kann schon sein, dass Lukács mir vorgeschwebt hat.”[27]

Siehe auch Manns Brief an Dr. Seipel: “Ich kenne auch Lukács selbst. Er hat mir einmal in Wien eine Stunde lang seine Theorien entwickelt. Solange er sprach, hatte er recht. Und wenn nachher der Eindruck fast unheimlicher Abstraktheit zurückblieb, so blieb doch auch derjenige der Reinheit und des intellektuellen Edelmutes.” [28]

 

1933-1945 Exil in Moskau und Rückkahr nach Ungarn

 

Gleichzeitig mit den Moskauer Schauprozessen fand im September 1936 eine nichtöffentliche Versammlung deutscher Schriftsteller statt. Lukács sprach vom Emigrantenleben als einer Situation des “Nichtverbundenseins” mit den breiten Massen in der Sowjetunion.[29]

 

Waehrend seiner Emigration in Moskau (1933-1945) hat Lukacs mehrere Schriften ueber deutsche Literatur, z.B. Thomas Mann, und zwei Bücher über deutsche Philosophie, Der junge Hegel, Die Zerstörung der Vernunft, verfasst. In beiden Werken wurden Rosenzweig’s Hegel und der Staat diskutiert aber nicht dessen Werk über jüdische Problemen.[30]

 

Nach seiner Rückkehr nach Budapest im Alter von 60 stürzte sich Lukács in eine fieberhafte Aktivität. Er wurde Mitglied des Parlaments, Professor an der Universität, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und spielte eine aktive Rolle bei der Bolschewisierung der Akademie. Allerdings schrieb Lukács seinem Freund Michael Lifschitz, er kehrte nach Budapest zurück mit dem Gedanken, später nach Wien umsiedeln zu können.[31] Die Frage ergibt sich: Fühlte Lukács sich endlich zu Hause oder blieb er auch in Budapest ein Fremder? Im Jahre 1949 soll er in Weimar  gesagt haben, “Wenn ich in Budapest einen Schüler habe, der mich versteht, so wäre ich Optimist...”[32]

 

Er blieb freilich auch jetzt ein Förderer der klassischen Literatur (Goethe, Mann) gegen den sowjetsozialistischen Kitsch, war aber auch mitverantwortlich für die Unterdrückung des Modernismus in Literatur (Kafka, Joyce, Proust) Philosophie (von Heidegger bis Wittgenstein) und bildenden Künsten.

 

Es ist für uns heute wichtig, seine Auseinandersetzung mit den bürgerlich-radikalen Intellektuellen über den ungarischen Faschismus im Auge zu behalten.

 

Zwei unterschiedliche Konzeptionen über das ungarische Bürgertum wurden präsentiert, und diese waren verknüpft mit der Judenfrage. Lukács sah als zentrales Problem die Diktatur und Korruption des Kapitals, und so ergab sich seine Bewertung des Faschismus: für viele andere war der Antisemitismus der Kern der Gegenrevolution und die Ursache des darauffolgenden Faschismus. Für den Marxisten Lukacs stand die Diktatur des Grosskapitals im Zentrum des aufkommenden Faschismus, und er lag damit im Einklang mit der Dimitrov Definition. Infolgedessen sah Lukács die Bekämpfung des Antisemitismus nicht als erste Aufgabe, er betrachtete es als eine Begleiterscheinung. Laut Lukács muß wer in Ungarn die Demokratie will, und zwar eine Demokratie ohne Antisemitismus, helfen, die [jüdische] Fellner-Ullman Diktatur zu brechen.[33]

 

Der Historiker Istvan Deák schrieb vor kurzem dass “the Jewish factory owners and bankers in Budapest derived immense profits for the manufacture of arms for the German and Hungarian armies [während des 2. Weltkrieges]. Whenever Hitler pushed Horthy to take drastic measures against the 800.000 Hungarian Jews, the latter replied that would produce the collapse of the Hungarian war industry. Whenever the Hungarian government planned a little more quiet resistance to German demands, the Hungarian Jewish leaders put in their plea for more collaboration so as to save the Jewish community.” Deák setzt fort: “No one likes to discuss this subject today, but it must be said here that the immediate interest of the Jews, namely survival, was not necessarily identical with the interest of the Allies, which was to defeat Germany”.[34]

 

1967 wurde Lukács von westdeutschen Intellektuellen (Abendroth, Holz und Kofler) besucht und über Politik, Literatur und Philosophie befragt. Dabei kam es auch zur Judenfrage. Lukács sagte: “...nun ist bei Semprun [Autor des Romans Die grosse Reise] etwas was ich sehr gerne hervorheben würde, denn es bezieht sich auf einen Fall jenes schrecklichen Ereignisses des Faschismus, nämlich die Judenfrage...ich halte es für falsch, wenn heute in Deutschland die Neigung besteht, die Überwindung des Faschismus auf die Judenfrage zu reduzieren. Das ist nur eine Episode, und Semprun hat die Angelegenheit schön und sehr tapfer auch als eine Selbstkritik des Judentums dargestellt; es gibt nämlich bei ihm einen deutschen kommunistischen Juden, der nach Frankreich kommt, unter den franzősischen Partisanen kämpft, als Partisan fällt, und Semprun schreibt dazu: ‘Ich will keinen jüdischen Tod sterben.’ Jüdischer Tod war nämlich, dass Hunderttausende und Millionen in den Gasofen gejagt worden sind, ohne den geringsten Versuch irgendeines Widerstandes...”[35]

 

Zum Schluss bleibt die Frage, die nicht eindeutig beantwortet werden kann: ob Lukács ein konsequenter Marxist, ein “non-Jewish Jew” (Isaac Deutscher), oder   ein Vertreter des “secularized messianism” (Joseph Maier) gewesen sei oder: Handelte es sich um einen Fall von jüdischem Selbsthass, wie Ernst Bloch definierte: “Es gibt den nachgemachten Antisemitismus von Juden, um sich ein Alibi zu geben. Aber bei Marx, Weininger, Kraus erinnert er nicht an Lueger, sondern an Jesaia, an das alte Eifern der Propheten gegen Abfall und Wucher und gegen die Tochter Zions. Solcher Judenhass beim Juden kann ein Zeichen sein, dass er ein echter Jude ist.”[36]



[1] Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1972, S. 528-529.

[2] Fraenkel, Ernst und Bracher, Karl Dietrich, Hrsg. Staat und Politik. Frankfurt am Main, Fischer, 1957, S. 140.

[3] Horváth, Zoltán. Die Jahrhundertwende in Ungarn. Geschichte der 2. Reformgeneration. Neuwied a.R. Luchterhand, 1966.

[4] Kolakowski, Leszek, Hauptströmungen des Marxismus. Bd. 3, S. 277.

[5] H. Lapointe. Georg Lukács and His Critics. An International Bibliuography with Annotations (1910-1982). Westport-London, 1983.

[6] George Steiner. “Making Homeland for the Mind,” TLS, January 22, 1982, S. 67.

[7] Wiggershaus, Rolf. Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. München. Hanser, 1986, S. 92.

[8] Georg Lukács. Gelebtes Denken. Eine Autobiographie in Dialog.

Red.: István Eörsi, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1981, S. 39.

[9] . Ibid., S. 39.

[10]. István Herrman. Lukács György élete. Budapest: Corvina kiadó, 1985. S. 9.

[11] .Jacob Katz. „German Culture and the German Jews,” Commentary, February 1984,, S. 54-59.

[12]  Kurt Gassen und Michael Landmann, Hrsg. Buch des Dankes an Georg Simmel. Berlin, Duncker und Humblot, 1958, S. 26.

[13]  Gelebtes Denken, S. 45 ff.

[14]  Lukács György. Ifjúkori müvek. Budapest, Magvető kiadó, 1977, S. 20-22.

[15]  Pál Szende. „Christian Hungary and Jewish Capitalism.” The New Europe, October 1920.

[16] Brief von József Lukács an Georg Lukács, 23.8.1909.

in: Lukács György levelezése (1902-1917), Fekete Éva und Karádi Éva, Hrsg. Budapest, Magvető kiadó, 1981, S. 148.

[17] Hannah Arendt. Menschen in finsteren Zeiten. München, Piper, 1989, S. 216-217.

[18] Judith Marcus Tar, Thomas Mann und Georg Lukács. Köln-Wien. Böhlau Verlag, 1982, S. 138.

[19] Judith Marcus Tar, S.186.

[20] Gerhard Sauder, „Von Formalitåeten zur Politik: Georg Lukács’ Heidelberger Habilitationsversuch,” In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 14, 1984, Heft 53/54, S. 79ff.

[21] Marianne Weber. Max Weber: Ein Lebensbild. Tübingen: J.C.B. Mohr, 3. Aufl, 1984, S. 476.

[22] Judith Marcus Tar, S. 150.

[23] Lukács György. Ifjukori müvek. Budapest, Magvető kiadó, 1977. S. 756.

[24] Thomas Mann. Tagebücher, 1918-1921. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1979, S. 63.

[25]  Karl Löwith,” Max Weber und Karl Marx,” in: Archiv für Sozialwiss. Und Sozialpol. LXVI, 1932.

[26] Judith Marcus und Zoltán Tarr, eds. Georg Lukács. Theory, Culture, and Politics. New Brunswick (USA) and Oxford (UK), Transaction Publishers, 1989, S. 58-59.

[27] Katia Mann. Meine ungeschriebenen Memoiren. Frankfurt am Main. S. Fischer, 1974, S. 82-83.

[28] Thomas Mann. „Brief and Dr. Seipel,” In: Miszellen, Frankfurt am Main: Fischer Bücherei, 1968, S. 172.

[29] Reinhard Mueller, Hrsg. Die Säuberung. Hamburg, rororo, 1991, S. 196.

[30] Georg Lukács. Der junge Hegel. Berlin: Aufbau Verlag, 1954.

Georg Lukács. Die Zerstőrung der Vernunft. Berlin: Aufbau Verlag. 1954.

[31] Mihail Lifsic-Sziklai László. Moszkvai évek Lukács györggyel. Budapest. Gondolat, 1989.

[32] Persönliche Mitteilung von Herrn Professor Dr. Knut Borchardt/München.

[33] György Lukács. Uj magyar kulturáért. Budapest, Szikra, 1948, S. 192ff.

[34] István Deák. „Admiral and Regent Miklos Horthy,” The Hungarian Quarterly, Autumn 1996, S. 85-86.

[35] Theo Pinkus. Hrsg. Gespräche mit Georg Lukács. Hamburg, Rowohlt, 1967, S. 54-55.

[36] Judith Marcus Tar, S. 178.