Tamás Lichtmann
Geistige Positionen des Judentums in der ungarischen Kultur
Károly Pap als Repräsentant der ungarisch-jüdischen Literatur
2021.01.04.
Im vorliegenden Aufsatz wird ein wichtiges Phänomen der mitteleuropäischen Kulturgeschichte, der jüdische Beitrag zur geistigen Entwicklung im Donauraum behandelt. Der Aufsatz wird auf zwei Hauptteilen gegliedert: Im ersten Teil wird die Geschichte des Judentums in Ungarn geschildert, mit besonderer Rücksicht auf die Beteiligung der Juden an der ungarischen Kultur. Darauf folgt im zweiten Teil ein Porträt des Schriftstellers Károly Pap, dessen Leben und Werk eine charakteristische geistige Position der ungarisch-jüdischen Literatur repräsentiert.
Die ersten jüdischen Siedlungen im mitteleuropäischen Raum sind schon zur Zeit des Römischen Reiches entstanden und die Anwesenheit der Juden ist kontinuierlich nachweisbar. Jahrhundertelang lebten die Juden isoliert, in Ghettos eingeschlossen, unterdrückt, geängstigt, von der weltlichen Macht und von der Kirche verfolgt und immer wieder auch physisch ausgestoßen, sogar oft massenweise getötet, in ständiger Lebensgefahr. Das Judentum als verachtete Minderheit war so bis auf einige Ausnahmen ins Pariaschicksal gedrängt – bis zum Zeitalter der Aufklärung, wo die ersten Emanzipations- und Assimilationsbestrebungen erschienen sind.
Die Anfänge des Eintritts der Juden in die ungarische Kultur gehen auf das sogenannte Reformzeitalter in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zurück. Die liberale Atmosphäre der Zeit der ungarischen Unabhängigkeitsbewegungen, die dann zur bürgerlichen Revolution und zum Freiheitskrieg gegen Österreich von 1848-1849 führten, beförderte die Emanzipationsbestrebungen der Juden. Nach der von dem aufgeklärten Absolutismus von Joseph II. aufgezwungenen Säkularisierung der Juden (zwangsweise Einführung der deutschen Sprache, Aufnahme deutscher Familiennamen) haben sich die auf diese Weise schon teilweise emanzipierten Juden freiwillig und bewußt für die ungarische Sprache und Kultur entschieden, vor allem aus religiösen und aus wirtschaftlichen Gründen (bewußter Gegensatz zum österreichischen Katholizismus, der viel feindlicher war als der ungarische Protestantismus des liberalen Adels – und gegen das deutsche Bürgertum in den ungarischen Städten, das die wichtigsten Rivalen des jüdischen Bürgertums bildete). Die ungarischen Juden wurden also ungarisch und nahmen konsequent am Freiheitskampf gegen die österreichische Unterdrückungsherrschaft teil. Eine paradoxe Folge war die enorme Summe der Geldstrafe, die die Juden für die Teilnahme an der Revolution zu zahlen gezwungen waren, und die dann Franz Joseph I. für die Errichtung einer jüdischen Hochschule verwenden ließ, aus der das weltberühmt gewordene Budapester Rabbinerseminar, die wichtigste Stelle der ungarisch-jüdischen Wissenschaft herangewachsen ist. So entstand die bis heute als Zentrum der ungarisch-jüdischen Wissenschaft geltende Institution, in der mehrere Generationen großer Wissenschaftler tätig waren.
Der erste bedeutende Dichter, der den Eintritt der Juden in die ungarische Literatur in seiner Person verkörperte, war József Kiss, der für sich eine ähnliche Rolle beanspruchte wie Heinrich Heine in Deutschland. (Im Unterschied zu Heine verzichtete er aber nicht auf seine jüdische Identität und blieb sein Leben lang ein gläubiger aber gleichzeitig emanzipierter und kulturell assimilierter Jude). Ein großer Dichter - vom Format Heine - ist er nicht geworden, dazu fehlte ihm die Begabung, aber als Gründer und Herausgeber der Zeitschrift “Hét” (Die Woche) ging er in die Literaturgeschichte als Wegbereiter und Organisator der ungarischen “Moderne” ein. In seiner jahrzehntelang herausgegebenen Zeitschrift wurden die ersten Werke der großen Generation der modernen ungarischen Literatur veröffentlicht. Der andere wichtige Wegbereiter der Modernen war Sándor Bródy, der bedeutendste Repräsentant des ungarischen Naturalismus, auch ein assimilierter Jude. Am Anfang des 20. Jahrhundert erschien dann die bedeutendste Zeitschrift der modernen Literatur “Nyugat“ (Westen), herausgegeben und finanziell unterstützt vorwiegend von assimilierten Intellektuellen jüdischer Herkunft. In dieser Zeitschrift spielten auch Dichter, Schriftsteller, Kritiker und Publizisten jüdischer Abstammung eine wichtige Rolle. Die Geschichte der ungarischen Moderne läuft parallel mit der Wiener Moderne und der bedeutende und kaum zu überschätzende Anteil der Juden an dieser Entwicklung ist auch ähnlich zu bewerten.
Das ungarische Judentum hat seit den Anfängen der Emanzipation am Anfang des 19. Jahrhunderts einen langen Weg der Identitätsmodifizierung und der Suche nach neuen, komplexeren Identitäten durchgemacht.. In der Periode von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg, mit der im folgenden befasst wird, sind folgende geistige Positionen der jüdischen Identitätssuche zu beobachten:
- Assimilation: Das emanzipierte Judentum bestrebt sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Aufnahme und Eingliederung in die ungarische Gesellschaft und nach einer ebenbürtigen Rolle in der ungarischen Kultur. Die jüdischen Intellektuellen wollten im literarischen Leben immer mehr eine führende Rolle spielen, wie die oben schon erwähnten Schriftsteller József Kiss und Sándor Bródy, die Publizisten Ignotus, Miksa Fenyő und Lajos Hatvany (der erstgenannte war Gründer und erster Herausgeber der Zeitschrift “Nyugat”, die beiden anderen waren auch Mäzene der Zeitschrift), die Dichter der Moderne, Jenő Heltai (der Neffe von Theodor Herzl), Milán Füst, Ernő Szép, der weltweit berühmteste ungarische Dramenautor Ferenc Molnár, der Satiriker Frigyes Karinthy, sowie bedeutende bürgerliche Autoren der Zwischenkriegszeit, der Dichter Miklós Radnóti, die Schriftsteller Tibor Déry, Károly Pap, Andor Endre Gelléri und der Essayst Antal Szerb, um nur einige Namen zu nennen.
- Sozialismus/Kommunismus: Die assimilierten Juden spielten auch in der Theoriebildung der Arbeiterklasse und in der Praxis der sozialistischen Revolutionen - wie in ganz Europa - auch in Ungarn eine führende Rolle. In vielen Fällen war es charakteristisch, daß die “marxistischen“ Juden ihre revolutionären Theorien mit ausgeprägten messianistischen Ideen vereinigt haben. Weltweit bekannte Beispiele dieser Bewegung sind Georg Lukács, einer der bedeutendsten Theoretiker der marxistischen Philosophie und Ästhetik, Béla Balázs, der Ästhet und Schriftsteller, der radikale Sozialforscher Oszkár Jászi sowie der Führer der ungarischen Räterepublik (1919) Béla Kun und Mátyás Rákosi, der spätere Diktator nach dem Zweiten Weltkrieg..
- Judentum: Die jüdische Tradition spielte natürlich auch eine wichtige Rolle, aber der europäischen Tendenz entsprechend haben die Juden in den intensiven Assimilationsperioden meistens auch der Religion und Tradition den Rücken gekehrt, und nur einige Vertreter der emanzipierten jüdischen Intellektuellen sind den Traditionen treu geblieben, wie der Schriftsteller Károly Pap, der in seinen Werken messianistische Ideen vertritt oder der Literaturwissenschaftler Aladár Komlós. Ein intensives Zurückfinden zu den jüdischen Traditionen ist einige Jahrzehnte nach der verheerenden und auch die glücklich am Leben gebliebenen Menschen schockierenden Wirkung des Holocaust zu beobachten. Die neue Nachkriegsgeneration der Schriftsteller jüdischer Herkunft besteht aus Überlebenden und jüngeren Autoren (Imre Kertész, György Konrád, Péter Nádas, András Mezei, György Somlyó, Mihály Kornis, György Dalos u.a.)
- Neben diesen drei charakterischen Richtungen können wir einen merkwürdigen ungarischen Sonderweg beobachten: In der Literatur der in Ungarn wirkenden jüdischen Autoren spielte das orthodox-religiöse, meistens jiddisch sprechende Judentum kaum eine Rolle (um die Jahrhundertwende erfolgte in Nordost-Ungarn ein Einwanderungsstrom aus Galizien und Ukraine, aber in der “hohen“ und assimilierten Kultur des Judentums war keine Solidarität mit den orthodox-hassidischen Juden spürbar sondern eher eine Abneigung gegen sie. Ein Beispiel dafür war die abweisende Reaktion des jüdischen Bürgertums auf die Ritualmordanklage von Tiszaeszlár. Eine historische Besonderheit der ungarischen Geschichte bestand darin, daß eher die liberale ungarische Intelligenz mit den angeklagten Juden solidarisch war und Hilfe leistete.
- Außerdem spielt in Ungarn der Kulturzionismus eine sehr geringe Rolle (obwohl die Gründungsväter des politischen Zionismus Theodor Herzl und Max Nordau aus Ungarn stammten) und es fehlt auch der messianistisch gefärbte Expressionismus. Messianistische Ideen kommen eher in der Auflehnung gegen die sozialen Zustände und in dem Erlösungswunsch vor (siehe auch den Fall Károly Pap).
Mit der raschen Entfaltung der jüdischen Emanzipation und der wachsenden Beteiligung der Juden an der ungarischen Kultur wuchs auch der Antisemitismus. Der politische Antisemitismus erschien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie fast in ganz Europa, aber dank des starken und energischen Widerstandes des ungarischen Liberalismus, hatte die einzige antisemitische politische Partei nur eine kurze Karriere im Parlament und der berüchtigte Ritualmordprozeß von Tiszaeszlár endete mit dem Sieg der aufgeklärten politischen Kräfte und mit einer Niederlage der Antisemiten. In der ungarischen Kulturszene begann um die Jahrhundertwende der “Kulturkampf“ gegen den Kosmopolitismus, Liberalismus, gegen den fremden und mit der ungarischen Tradition unvereinbar beurteilten Geist der Fremdlinge – Formulierungen, die alle euphemistisch vor allem das Jüdische bedeuteten. Zu dieser Zeit entstand die polarisierende Gegenüberstellung der echten, volksnahen sogenannten “volkshaften“ Literatur der “gesunden Provinz“ und der von der ungarischen “Volksseele“ wesensfremden “urbanen“ städtischen Literatur der sündhaften Großstadt. Die oben erwähnten Dichter jüdischer Herkunft wurden auch “ästhetisch“ angegriffen, indem ihnen die Verunreinigung der ungarischen Sprache, die Einführung einer wesensfremden Denkweise und ein fremdartiges Lebensgefühl vorgeworfen wurden. Die Vertreter der volkshaften-völkischen Ideen (die übrigens künstlerisch auf die besten Traditionen der ungarischen Literatur, auf Sándor Petőfi und János Arany zurückgingen) waren nicht alle Antisemiten, aber alle haben sie die Juden als Fremde betrachtet, die nie den organischen Bestandteil der ungarischen Kultur bildeten und bilden werden und schicksalhaft Außenseiter bleiben müssen. Und wenn es friedlich, durch Überreden nicht gehen würde, dann müssen sie ausgestoßen werden. Die literarische Szene war immer mehr polarisiert und aus dieser Gegenüberstellung wuchs auch die immer breiter gewordene Ausgrenzung der Juden aus der ungarischen Kultur hervor. Die judenfeindliche Kulturpolitik setzte sich dermaßen durch, daß das erste Judengesetz kurz nach dem Ersten Weltkrieg im kulturellen Bereich verabschiedet wurde (das sogenannte “numerus clausus“ Gesetz im Jahre 1920 (!), das die Zahl der Juden an den Hochschulen drastisch beschränkte).
In der Literatur der Zwischenkriegszeit wuchs eine zweite bedeutende Generation der Nyugat-Zeitschrift auf, die ebenso polarisiert war (aufgeteilt auf eine städtische, kosmopolitische Gruppe von Autoren meistens mit jüdischer Herkunft und auf eine volkshafte, traditionstreue Gruppe, die heftige Diskussionen führten aber miteinander überhaupt nicht feindlich umgingen). Die zweite Generation der jüdisch-ungarischen Autoren hatte fast ausnahmslos ein tragisches Ende, kaum einige haben die Verfolgung überlebt. In der ungarischen Literaturgeschichte wird diese Gruppe als die verlorene Generation bezeichnet (Miklós Radnóti, Antal Szerb, Endre Gelléri Andor, Károly Pap).
Im zweiten Teil meines Aufsatzes wird am Beispiel von Károly Pap eine charakteristische geistige Position der ungarisch-jüdischen Literatur vorgestellt. Károly Paps Judentum ist eine unbezweifelbare Tatsache. Nicht nur seine Herkunft ist eindeutig, sondern seine Religion, seine Persönlichkeit, seine Identität und sein seelischer Habitus, also die wichtigsten Aspekte seiner Existenz wurzeln im Judentum. Nach den biographischen Daten[1] ist der jüdische familiäre Hintergrund evident, von der Herkunft mit dem Rabbiner-Vater und mit einem tief religiösen orthodoxen Großvater - bis zur Erziehung (eine “aufgeklärt“ religiöse, nicht mehr dogmantische Religionsauffassung des Vaters, gemischt mit einem strengen bürgerlichen Puritanismus), die den Autor in seiner Kindheit und Jugend prägten. Von den wichtigsten geistigen Elementen seines Werkes sind die Erlösungslehre, die tiefgehende ethische Orientierung und der Messianismus zu erwähnen. Von den seelischen Charaktezüge kommen in seinen Werken am meisten das Einsamkeits- und Fremdheitsgefühl und eine Neigung zur Leidenschaftlichkeit vor; von den sozialen bzw. soziologischen Fragen spielen vor allem die Konflikte der Assimilation und der Generationengegensatz eine Rolle in seinem Schaffen. Károly Pap rettete die Schätze der uralten Kultur des jüdischen Volkes in die ungarische Literatur hinüber, und zwar mit einer so großen Intensität, dass er dadurch nicht nur die ungarische Literatur um einen neuen Ton und eine neue Farbe bereicherte, sondern auch seine individuellen Erfahrungen zu universalen Ideen erhob. Seine Kunst wurde zu einem organischen Teil der ungarischen Literatur, indem er seine konkreten Erlebnisse und Erfahrungen mit einer Abstraktionsbegabung, die in der ungarischen Literatur seinesgleichen sucht, in eine eigenartige mythische Welt transponierte. Seine Vision von der Wirklichkeit erreichte in seinen besten Werken eine universale Gültigkeit.
Das Hauptmotiv seines Lebenswerkes ist der jüdische Messianismus, der Kampf mit der Erlösung und um die Erlösung. Sein Leben und seine Kunst sind untrennbar miteinander verbunden, jede Zeile ist eine erlittene innere Wahrheit, eine Suche nach der moralischen Absolutheit, eine Übernahme des erlösenden Schicksals, sogar um den Preis des Untergangs. Pap nahm in einer einzigartig bewussten Weise und zugleich mit exaltierter Besessenheit die Rolle eines Propheten auf sich. In seinen Werken geht es um Schuld und Sühne und als allerletzte Konsequenz um die Erlösung, die durch Übernahme der Sühne gewonnen werden kann.
In den Romanen von Károly Pap wird der (jüdischen) Messianismus als zentrales Thema dargestellt, aber wenn darin nur das jüdische Schicksal gesehen würde, wäre es eine falsche und einseitige Beurteilung. Obwohl der äußere Anstoß und das Grunderlebnis seiner Werke durch das jüdische Schicksal und die jüdische Denkweise bestimmt ist, sind sie viel universaler, deswegen sind Parallelen zu ihnen sowohl in der jüdischen als auch in der ungarischen Literatur und sogar auch in der Weltliteratur kaum zu finden.
Im Roman Megszabadítottál a haláltól (Du hast mich vom Tode erlöst) scheinen die Religion der Liebe und die Suche nach der Erlösung jüdische Motive zu sein. Das Schicksal des Helden enthält etliche Jesus-Motive, aber diese Hauptfigur ist nicht der Erlöser, sondern der leidende Prophet, der die bedingungslose absolute Liebe, die unbedingte Güte und das Leiden vertritt. Und da er kein Erlöser ist, kann er auch kein Religionsgründer, sondern “nur” der Vollender der jüdischen Religion und des jüdischen Schicksals sein. Der Schriftsteller betont im Werk die menschlichen Werte, die Ideen des Humanen. Es sind Liebe und Mitleid, die auf alle Menschen auswirken, wie sie im Roman dargestellt sind. Darüber hinaus sind das Schuldbewusstsein unbekannter Sünde und die irrational unerklärbare Sühne jüdische und allgemeine moralisch-religiöse Fragen zugleich.
In seinem zweiten Roman, in A nyolcodik stáció (Die achte Station), treten die Motive in einer komplexeren Weise auf. Das Thema des Messianismus wird mit der Darstellung der ungarischen Realität, mit einer authentischen Gesellschaftsschilderung und mit der Behandlung der Künstlerproblematik verbunden. Der Künstlerheld de Romans fühlt sich grundsätzlich verpflichtet, die Wirklichkeit zu verändern, die Welt und die Menschen moralisch besser zu machen. Das kann aber nicht als immanente Aufgabe der Kunst verlangt werden. Deswegen gelingt die moralische und künstlerische Absicht des Helden, den bösen Richter zu einem guten Menschen zu verwandeln, nicht; sie kann nicht gelingen. Die Kunst kann die Aufgabe der Erlösung, die weit über jede ästhetische Möglichkeit des Künstlers hinausreicht, nicht übernehmen.
Károly Paps Hauptwerk, der Höhepunkt seines Lebenswerkes heißt Azarel: ein Roman der Entfremdung, in dem die existenzielle Einsamkeit im Schicksal eines Kindes dargestellt wird, wodurch sie noch erbarmungsloser und endgültiger wirkt. Der autobiographisch inspirierte Azarel ist die lebendigste und authentischeste Romanfigur des Autors. Die Frage nach der Identität des Individuums bedarf einer Deutung, die vor allem auf jüdische Wurzeln zurückzuführen ist. Dieses Problem wird am deutlichsten in der zum Azarel-Themenkreis gehörenden Novelle Vér (Blut) ausgedrückt. Der Held der Erzählung lebt im Elternhaus, das im Hofe der Synagoge steht, von den ungarischen Kindern der Außenwelt völlig isoliert. Er möchte so sehr zu der Mehrheit gehören, daß er aus dem strengsten verbotenen Blut eines Geflügels trinkt: “Ich glaubte, wenn ich davon zu trinken wage, werde ich wie die Kleinen, die in Lumpen gehen, so stark und frei und kühn, vielleicht werde ich nicht einmal mehr vor meinem Vater Angst haben müssen.“ [2] Der Fluchtversuch mißlingt, das Kind wird schwerkrank. Die Unmöglichkeit, dem Schicksal zu entkommen, wird resigniert vom Vater formuliert. “Und wenn ich dir erlauben würde, zu ihnen zu gehen,wärst du auch nur, was du bei uns bist. Jude und Sohn eines Priesters. Ich bin es auch, mein Vater, dein Großvater war es auch, und dessen Vater ebenfalls. Und du kannst auch nichts anderes sein, der Gott will es so.“[3] Es könnte kaum eine knappere Zusammenfassung der Schwierigkeit sogar meistens der Unmöglichkeit der Assimilation geben. Über den allgemeinen moralischen und ideellen Inhalt hinaus ist der Azarel ein hervorragender Gesellschaftsroman, in dem im jüdischen Milieu, mit jüdischen Motiven nicht nur an der jüdischen Mittelschicht, sondern an dem ganzen Bürgertum eine strenge Kritik ausgeübt wird. Ins Zentrum der Handlung wird das auch von der expressionistischen Generation bevorzugte Thema des Vater - Sohn Konflikts gestellt, der ebenso tiefgehend das ganze Lebenswerk von Pap bestimmt wie das von Franz Kafka.
Der Roman verkündet die moralische Forderung der Selbstkritik und Selbstuntersuchung, die diesmal mit einer persönlichen Authentizität auf der Ebene des Individuums artikuliert wird, die sich aber nicht nur auf das Judentum sondern über Religionen und Völkern hinaus auf die ganze Menschheit bezogen werden kann. Nur durch die Selbstkritik, durch das persönliche Beispiel kann die Menschheit zur Verheißung einer besseren Welt geführt werden. Darin erkennt Károly Pap die Aufgabe messianistischer Moralität; durch Selbstprüfung des Judentums stellt er der Menschheit ein Beispiel vor.
Neben der individuellen Selbstkritik in Azarel versucht er in seinem Essay Zsidó sebek és bűnök (Jüdische Wunden und Sünden) die Forderung eines kollektiven Beispiels zu veranschaulichen. Diese essayistische Diskussionsschrift ist kein wissenschaftlicher Text, kein historischer oder philosophischer Beitrag, sondern vor allem und fast ausschließlich ein künstlerisches Produkt. Für Pap war die Kunst keine pure Fiktion, keine schöne Erzählung, sondern immer eine moralische Stellungnahme, eine humanistische Tat, die mit dem Anspruch der Erlösung auftritt. In diesem höheren Sinne ist der Essay wirklich ein künstlerisches Werk, ein persönliches Bekenntnis eines moralisch unangreifbaren und konsequenten Autors.
Im Essay werden drei breit angelegten Gedankenkreise miteinander verbunden: die biblische und altjüdische historische Vergangenheit, die stürmischen Jahrhunderte der europäischen Geschichte des Judentums in Diaspora und eine Zukunftsvision, eine Suche nach Auswegen aus der tragischen Gegenwart. Zunächst bietet der Autor über die Geschichte und das mythische Schicksal des Judentums einen Überblick. Das Judentum ist ein Nomadenvolk (deswegen wandert es seit Jahrtausenden); ein Selbstmördervolk (deswegen nimmt es oft die völlige Zerstörung auf sich); die Juden machen fremde Länder reicher und mächtiger (durch die Assimilation seit den biblischen Zeiten, von Ägypten bis zur Gegenwart); das Judentum begeht immer wieder Sünden (Folgen der Assimilationsbestrebungen: sowohl der Kapitalismus als auch der Kommunismus wird von dem Autor als jüdische Sünde definiert!).
Die Geschichte der Juden wird als ein kollektives Schicksal dargestellt, wo über die Juden, über das Volk, über die gemeinsam begangenen Sünden (Assimilation, Anpassung, Eingriffe in fremdes Schicksal, sozialistische Ideen, sekularisierter Messianismus) und über die gemeinsam erlittenen Wunden des ganzen Volkes immer in Mehrzahl gesprochen wird. Dieser Kollektivismus steht aber im Gegensatz zu dem Gedanken, wie die Entstehung des jüdischen Glaubens aus einem individuellen Willen abgeleitet wird, indem der Autor meint, daß ein Gott nie aus einem Volk geboren wird, sondern immer aus einem einzigen Menschen: Gott ist die letzte Abstraktion unseres individuellen Schicksals. Und wie auch Thomas Mann in seiner Tetralogie Gott von Abraham schaffen bzw. entdecken läßt, so ist hier die Schaffung Gottes das Werk von Mose. Darin wird der Stolz des modernen Individuum, das schöpferische Selbstbewußtsein des Künstlers zum Ausdruck gebracht.
Im Mittelpunkt der Diskussionsschrift steht die theologisch-geschichtsphilosophische Problematik der jüdischen Sünde bzw. der Sünde überhaupt. Der Autor sucht die Gründe der unerklärbaren irrationalen Leiden, den Ursprung der Sühne. Und da er einen Grund für die Leiden finden will, findet er auch die Sünde, die schicksalhaft die Sühne und die Buße mit sich bringt. Die Ursünde (die Erbsünde) meint er in den ersten Assimilationsversuchen aufzufinden, im Schicksal von Abraham, Jakob, Josef und Mose. Die Sünde wird jahrtausendelang immer erweitert und vervollständigt, bis zu den heutigen Tagen. Die assimilierten Juden genießen und vermehren den Reichtum der verschiedenen “Pharaos“, während sich ihre Brüder und Schwester wie Nomaden herumirren. Die metaphorisch-dichterische Darstellung des Prozesses ist kühn und anachronistisch zugleich, und dabei konsequent und moralisch unangreifbar.
Das Judentum kennt keine ungerechten Götter nur einen gerechten und allmächtigen Gott, der den Kampf gegen jeglicher Form von Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Unfreiheit befiehlt und zwar in jedem Bereich des Lebens, also nicht nur in der religiösen und moralischen Sphäre, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Kontext.
Der Autor lehnt die Assimilation aus religiösen, moralischen, sozialen und politischen Gründen kategorisch ab. Für ihn bedeutet weder die Assimilation noch der Zionismus eine Lösung: “Der Jude, der schon seit mehreren Generationen als ungarischer Jude lebte, kann nicht nach Zion gehen, um dort zum ‘Volk’ zu werden, er muß vorher hier im ungarischen Judentum sein ungarisches Judentum auf sich nehmen; selbst in dessen allerletzten Konsequenzen.“[4] Das Judentum muß das Schicksal einer inneren Emigration auf sich nehmen, die Verantwortung für die jüdischen Sünden tragen; letzten Endes muss es für die Sünden der ganzen Menschheit büßen. Denn die Sünden der Juden sind immer mit den Sünden der Menschheit identisch, deshalb nimmt Jesus auch als jüdischer Prophet die Sünden der Menschheit auf sich und eben als Jude nimmt er die Sünden der Welt auf sich. ‚Du sollst alle Menschen lieben, vor allem diejenigen die dich hassen und verfolgen‘: so lautet der kategorische Imperativ des Autors. Diese alles umfassende Liebe ist das wichtigste moralische und ästhetische Gesetz. Károly Pap wollte die Sünde auch in den tragischen 40er Jahren, im Augenblick des Chaos, des moralischen Zusammenbruchs und der Todesgefahr überhaupt nicht in dem Anderen, in dem ihn Verfolgenden, in dem mörderischen Unmenschen erkennen, sondern nur in sich selbst suchen. Die Gründe der jüdischen Wunden will und kann er nur in den jüdischen Sünden sehen. War es eine Naivität oder eine prophetische Berufung? Die Frage ist schwer zu beantworten.
Dieser außerordentlich heftig diskutierte, bis heute umstrittene Gedanke ist die letzte Konsequenz des Essays. Der Lösungsversuch ist die allgemeingültige, selbstaufopfernde Liebe, die bedingungslose Hingabe: wir müssen die ganze Welt lieben, sogar diejenigen, die uns hassen, uns selbst müssen wir auch hassen und aufopfern (Zeichen des jüdischen Selbsthasses). Károly Pap erweitert die Verantwortung des Judentums auf die ganze Menschheit; das jüdische Volk muss sich aufopfern, wie es Jesus getan hatte, es muss der Menschheit ein Beispiel geben, um als Idee wieder zu auferstehen. Der Autor verlangt von seinem Volk eine moralische Verantwortung für die ganze Menschheit. Die historisch-moralische Aufgabe der Juden besteht darin, in ewiger Minderheit die Weltharmonie zu schaffen.
Diese Fragen nach der
kollektiven Schuld und Verantwortung des Judentums können mit dem
individuellen Lebensgefühl der Einsamkeit, das ein wichtiges und immer
wiederkehrendes Motiv bei Károly Pap ist, verbunden werden. Seine Helden
spüren immer eine bis zur Allgemeingültigkeit gesteigerte Einsamkeit,
Fremdheit und Isoliertheit. Sie suchen vergeblich nach ihren Sünden, sie
spüren nur Verurteiltsein, Beklemmung, Angst und Traurigkeit. Für sie ist
das Leben das Gefängnis nach einer unerklärbaren Urteil. In seiner frühen
Novelle Átváltozás (Verwandlung)
steht folgender Satz: “Es gibt ja
Menschen, die durch die Bosheit der Menschen oder durch die eigene
Verruchtheit, andere durch Leiden, wieder andere von ihren eigenen Zeugern
zum Tode verurteilt werden; aber meine Verurteilung hat keine Quelle: ich
sehe ihre Herkunft nicht, ich sehe den Zweig des Baumes von dem Urteil
nicht, ich spüre nur seinen Strick um meinen Hals herum: die Traurigkeit.“[5]
Die Einsamkeit wirdin den späteren, etwa um die Zeit der Entstehung der Streitschrift geschriebenen Werken mit dem Judentum verbunden und aus der jüdischen Existenz abgeleitet. In der autobiographischen Erzählung Azarel Pestre érkezik (Azarel kommt in Budapest an) geht es um “die Melancholie des Nirgendwo-Hingehörig-Seins“ und dieses Gefühl wird mit der Bemerkung ergänzt: “Ich zerfalle wie das Volk, aus dem ich stamme!“[6]
Einsamkeit oder Anpassung, Absonderung oder Eingliederung, Außenseitertum oder Assimilation, das sind die ontologischen Fragen des seine Identität suchenden Menschen (und nicht nur die der Juden). Wie oben gezeigt wurde, lehnt Károly Pap die Assimilation als eine schwere Sünde ab. An diesem Punkt wird die Assimilation mit der Einsamkeit verbunden: die Ablehnung der Assimilation bedeutet nämlich die Einsamkeit, das Außenseitertum, das Anderssein, und zwar nicht nur im individuellen Bereich, sondern auch für die Gemeinschaft des jüdischen Volkes. Das Judentum steht einsam und allein in der ganzen Welt und seine Berufung, die Erlösung durch Selbstaufopferung ist eben die Aufgabe des Außenseiters. Sie kann nur von einem Außenseiter vollbracht werden.
Die wichtigsten Fragen in den Werken von Károly Pap sind grundsätzliche ontologische und moralische Fragen; die Frage der Sünde, die beinahe irrationale Schuldhaftigkeit und die Sehnsucht nach der Erlösung in einer an Unerlöstheit leidenden Welt. All diese sind jüdische und universale Fragen zugleich. Als eine abschließende Hypothese kann formuliert werden, dass sich das Vorhandensein von allgemeinen Existenzfragen und moralischen Konflikte gewissermassen von der Universalität der jüdischen Religion und Denkweise ableiten lässt.
[1] Károly Pap (1897-1945) geboren in Sopron (Ödenburg, Westungarn). Sohn des konservativen Rabbiners und Literaturwissenschaftlers Miksa Pollák. Teilnahme im 1. Weltkrieg und an der Ungarischen Räterepublik. Verfolgung und Gefängnis, dann unruhiges Wanderleben. Gelegenheitsarbeiter, Schauspieler in Wandertruppen,.Beamter. Ab 1925 freischaffender Schriftsteller, Erzähler, Romanautor, Dramatiker, Essayist. In der immer stärker gewordenen antisemitischen Athmosphäre nimmt er für seine jüdische Identität mutig Stellung. Gestorben in Bergen-Belsen.
[2] Károly Pap: B. városában történt [Es geschah in der Stadt B.] Budapest, 1964. Bd. II. S. 65.
[3] Ebd. S. 69.
[4] Károly Pap: Zsidó sebek és bunök. [Jüdische Wunden und Sünden]. Budapest, 1935. S. 83.
[5] Károly Pap: B. városában történt. Budapest 1964. Bd. I. S. 130.
[6] Ebd. Bd. II. S. 398, 403.
FEL