Wilhelm Raimund Beyer
Ungarische Themen im Denken von Ernst Bloch
2023.03.21.
Das Denken Ernst Bloch’s blieb stets hinsichtlich seiner themenmässigen Stipulationen ungemein breit gefächert. Gerade mit dieser Variationsbreite vermochte es eine weit gestreute Jüngerschaft zu gewinnen und zu fesseln. Es genügt nicht, diese Vielfalt allein aus den Umständen des geschichtlich zu bewertenden wechselvollen Lebens von Bloch zu konstruieren und alsdann zu interpretieren. Die Breite, die allein in Tiefe umzuschlagen vermag, wurzelt vielmehr in diesem speziellen Denken selbst. Ein "noch nicht" kann allenthalben und jederzeit ge- und bedacht werden, aber es bleibt immer nur eine Seite der allgemeinen, philosophischen Kategorie des "Werdens".
Die meist nicht nur literarisch aufgezogenen Werke Blochs und ihre Denkbereiche wie "Utopie" oder gar "Prinzip Hoffnung" oder das keineswegs rein philosophisch verbleibende und trotzdem Hegel gewidmete "Subjekt-Objekt"-Werk und noch weniger das ontologisch angelegte, dem Schlagwort des "offenen Systems" verpflichtete "Experimentum mundi" bezeugen dem Denken wie dem Denker den Drang zur Weite und Breite, das "novum" und mit diesem zusammen das "verum" allüberall suchend – und findend.
So stört die Zeit der rein journalistischen Berufstätigkeit des Denkers Bloch keineswegs das Gesamtbild, bringt aber doch Akzentuierungen und Farbtönungen für das Ganze, das unsystematisch angelegte zum "Systema" erhobene "Utopische". Jedes Einzelthema steht unter dem Banne (oder: Schutzschild ? ) der utopisch erwarteten Möglichkeit. Selbst im Neukonstruieren historischer Gegebenheiten (z.B. im Falle Thomas Münzer ! ) bleiben die Zeichnungen eben vergangener Utopien realen Hoffnungen verhaftet.
Ernst Bloch war von 1917 – 1919 in der Schweiz, also die letzten Jahre des I. Weltkriegs und die eigentlichen Revolutionstage, sei es dieser in Russland, sei es in Deutschland, aber auch in Österreich-Ungarn. Er gerierte sich als scharfer Kritiker aller politischen Geschehnisse, soweit sie ihm bekannt wurden. Wirtschaftlich gesehen war er "freier Mitarbeiter" einer ganz linke gerichteten sich " demokratisch" nennenden Zeitung, die da "Freie Zeitung" hiess und von April 1917 bis März 1920 in der Schweiz, in der Umgebung von Bern, erschien und in Emigranten-Kreisen wie in beobachtenden Institutionen der Entente-nahen Elemente Aufmerksamkeit fand. Es gab sehr viele, weitere solcher Blätter. Nicht nur um der darin vertretenen Richtungen willen, sondern um der Redakteure und Autoren willen! Was wollte ein sich aus seinem Heimatlande absetzender Geisteswissenschaftler in der Schweiz anfangen, denn – eine Zeitung gründen oder in ihr schreiben. Dazu: einen Beruf musste er ausüben, denn sonst wäre ihm die Aufenthaltsbewilligung entzogen worden.
Die Herausgabe aller von Ernst Bloch während seines ersten schweizerischen Aufenthalts meist unter einem Pseudonym geschriebenen Zeitungsaufsätze und einiger weiteren Schriften aus dieser Epoche verdanken wir Martin Korol. 1) Alle Schriftstücke verraten eine äusserst spitze Feder, die sich zur Frage der ungarischen Politik und der Haltung der massgebenden politischen Kreise im Rahmen der k.u.k. Monarchie (Österreich-Ungarn) oft geradezu gehässig geriert. Das ständig, fast schablonenhaft auftretende Verdammungsurteil über "Kakanien" finden wir meist in unmittelbarer Nachbarschaft der Hassäusserungen gegenüber Preussen und dem, was Bloch unter diesem Sammelnamen verstand, nämlich die von ihm selbst sich unterscheidenden anderen Denkmeinungen. Auf seiner Seite liess er eigentlich nur ganz wenige zu: Kurt Eisner, dann Johann Wilhelm Muehlon und ferner – zeitweise – Hugo Ball.
Preussen und Österreich-Ungarn bleiben nicht nur politisch die Erzfeinde Blochs. Es gilt auch der Hass gegenüber den Staatsangehörigen, ja auch den Bewohnern der genannten Staaten, bezw. Völkern. Viele Stellen, darauf hin, dass im mündlichen Gespräch über diese Verfemten noch reichere Bei-und Schimpfworte die Verfemung derselben charakterisieren. Damit stellt sich uns ein Hass-Journalismus vor, wie wir ihn heute nur in ganz wenigen Ausnahmen bei Extremisten finden. Für die Einschätzung des Gesamtwerkes von Ernst Bloch dürfte dieser Umstand einige Rückschlüsse anmelden.
1.) Die Rolle Ungarns im Verbund "Österreich-Ungarn" jener Jahre.
Bloch speist seine Meinungsunterlagen allein oder zumeist aus den Tages-Zeitungen seiner Zeit. Und zwar derjenigen, die er in der Deutsch-Schweiz damals erreichen konnte. Er zitiert fleissig; und, da seine Geldmittel äusserst beschränkt waren, kann er nur im Kaffeehaus die eben aufliegenden Nummern bestimmter Zeitungen erreichen. Für seine Grünwalder Zeit und das Kaffeehaus Fischer hat er mir für einen mehrmals angekündigten Besuch in meiner damaligen Grünwalder Zweitwohnung dies mündlich gesagt und als Besprechungsort eben dieses Haus vorgeschlagen. Solche Zeitungs-Cafes gab es damals viele, in Süddeutschland, heute noch in Österreich besonders. Es war – und ist in einigen Gegenden heute noch Sitte – üblich, dass der Literat, der Journalist, der Bücher-und Romanschreiber im Zeitungskaffehaus sich orientiert und alle wichtigen Gazetten studiert.
Die "Freie Zeitung", bei der vor allem die Namen Hans Schlieben, Hugo Ball und Wilhelm Muehlon aufscheinen, siedelte meist in der Umgebung von Bern, wo auch der Druck der Zeitung erfolgte. Im Jahre 1919 trennte sich Bloch von der "Freien Zeitung", die den Untertitel "Unabhängiges Organ für Demokratische Politik" führte. Für diese Trennung war – wie so oft im Leben Blochs – ein Streit unter Herausgebern und Mitarbeitern der Anlass. Alle Freundschaften Blochs hielten nicht lange, wie mir später einmal Theodor W. Adorno sagte. 2)
Die politische Leitlinie für die Bloch’schen Beiträge war damals vor allem Wilson, seine Aufrufe und die mit dem Handeln Wilsons in Verbindung stehenden politischen Aspekte. Politische Hoffnung für Deutschland speziell war für Bloch Kurt Eisner. Dieser, Spross einer aus Galizien und Mähren stammenden jüdischen Familie kam 1867 in Berlin zur Welt. 3) Nach Studium-Abschnitten kam bald der Drang zur Presse und zur Parteiarbeit innerhalb der Sozialdemokratischen Partei bei ihm auf. Diese berief ihn später als Chefredakteur zur "Fränkischen Tagespost" nach Nürnberg (1907). Die journalistische und politische Tätigkeit, die er anschliessend dann in München entwickelte, ist bekannt. Der Eisner-Mord 1919 löste die bayerische Räterepublik aus. Ernst Niekisch und dann Ernst Toller, vor allem aber der am 10.5.1883 in Petersburg geborene Eugen Leviné waren die Träger des sich abspielenden Vorgangs. Die politische und vor allem parteiliche Verfilzung, die sich nach dem Mord an Eisner steigerte, wäre einer scharfen Kritik aus der Feder des Tagespolitikers Ernst Bloch Wert gewesen. Er kennt diese Kreise aber nicht; er sah nur Eisner.
Aber auch für diesen gilt, dass die ungarischen Vorgänge um Bela Kun und das Geschick der ungarischen Räterepublik erhebliche Folgerungen für die Geschehnisse in Bayern gezeitigt hatten. Ungarn galt nicht etwa als Vorbild, sondern als Parallel-Fall und damit als Beweis für die Richtigkeit der angestrebten politischen Ziele. Bloch schweigt zu all diesen Fragen. Den einzigen, den er aus diesem Kreis nennt, Toller am 27.8.1919 4), kommt jedoch nur wegen eines Ungarn-Bezugs, der Hilfsaktionen für Georg Lukács in den Bloch’schen Text.
Die "Abrechnung" mit der nach dem Ende des I. Weltkriegs nur kurz und vorübergehend ausgeschalteten Herrscherklasse ähnelt in Ungarn und Bayern sich ganz erheblich. Bloch nennt hierfür Bayern, das ja sehr rasch nicht nur die politische, sondern stets als Lösung eine nachfolgende juristische Erledigung des Falles vollzog, als Exempel. Bloch anerkennt für Lukács: "Er half mit, so stark er konnte, das ungarische Volk von Ausbeutern und vor allem von Junkern frei zu machen". Bloch fährt jedoch fort: "Lukács ist, obzwar in Ungarn geboren, ein deutscher geistiger Revolutionär". Für ihn fordert daher Bloch: Amnestie.
a.) Die Preussen-Nähe Ungarns in der Zeichnung Blochs
Bloch verlangt die "Aufhebung des ungarisch-österreichischen Dualismus, der die Hegemonie zweier Herrennationen verewigt, von denen sich jedoch übrigens: die Deutschen in Österreich, die Magyaren in Ungarn, selber in zahlenmässiger Minorität befinden". 5) Wir bemerken: Bloch stellt die Ungarn als "Herrennation" vor, die sich als zahlenmässige Minorität die Herrschaft angeeignet hat. Diese Zeichnung mag, da sie unbegründet vorgetragen wird, etwas allzu journalistisch und unbekümmert erfolgt sein. Dass Bloch alsdann die geschichtlich gerechtfertigte und heute ja vollzogene Aufteilung des einstigen Habsburgerreiches bedingungslos fordert, wobei ja die Autonomie Ungarns im Programm mit eingeschlossen ist, versteht sich für uns Heutige von selbst. Im Übrigen war solche Forderung keineswegs originell. Selbst in Österreich wurde sie immer und immer wieder vertreten.
Zurecht wehrt Bloch auch die "Donauromantik" ab, die sich bei der Betrachtung der österreichischen und ungarischen Beziehungen oft einzustellen beliebt. 6) Um der Flüsse und deren Ablaufs willen, so wichtig dies für Transport-, Wirtschafts- und Siedlungsprobleme auch sein mag, kann niemals weitschauende Politik vorangetrieben werden. Bloch hätte auch darauf hinweisen können, dass Österreich ja Uferstaat des Rheins und nicht nur an der Donau war (und ist). Sicherlich aber trägt die Zurückweisung solcher Romantik die Fahne des hegelschen Geistes, der den Fortschritt nach Bloch tragen soll, im Bewusstsein hin zur "Freiheit" nicht, denn Hegel hat diesen Fortschritt der Bewusstheit der Freiheit stets "für sich", also für den Geist, gefordert und dabei dieses "für sich" sogar unterstrichen. 7)span style="mso-bidi-font-size: 14.0pt">
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Anschliessend folgt nun für Bloch wieder diese Vermischung seine politischen Pläne für Österreich mit Ungarn, sodass eben auch diese "Herrennation" die unterdrückten Völker nun frei lassen müsse. Bei Betrachtung der Wilson’schen Forderungen und der Betonung der Befreiungstendenzen der slawischen Völker der k.u.k.- Monarchie kommt Bloch zur Benennung aller unterdrückten Völker als "Vasallen Österreich-Ungarns". 8) Geschichtlich gesehen waren sie alle doch nur Vasallen Habsburgs, vielleicht in einem Einzelfall auch "Österreichs", nie aber "Österreich-Ungarns".
Verwickelte und merkwürdige Gedanken entnehmen wir einem Beitrag Blochs vom 19.12.1917. Wir können uns dies eigentlich nur so erklären, dass Bloch in der Suche nach kritikfähigen Äusserungen der Tagespresse oder anderer Redakteure eine kesse, auffällige und einschlagende Meinung als "Knüller" auswerten wollte. Er meint, dass "Lenin-Trotzky die willkommenen Vorarbeiter für Preussens Sache" seien. 9) Indem sie die "Bündnistreue" mit Amerikanern, Engländern, Franzosen u.a. "aufgeben" und sich dabei auf einen Umstand – den Stegemann so zeichnete – des "vornehmsten Staatsgrundsatzes der raison d’etre "berufen, leisten sie Vorschub für Preussen. Bloch will diese Haltung kritisieren. Er fragt dazu, wie es wäre, wenn "Österreich-Ungarn von der Nibelungentreue ab" – gehen würde und dadurch Deutschland allein den Fortgang des Krieges überantworte. Der Journalist Bloch weiss anscheinend nicht, dass gerade dies ja der Fall war. Die habsburgische Kaiserin Zita und vor allem ihr Verwandter Prinz Sixtus hatten ja versucht, dies zu bewerkstelligen. Aber: auch dieser "Versuch", der ja sofort von den Angezielten zurückgewiesen worden war, kam vom "Hause Habsburg" und nicht – wie Bloch in seinem Konzept vorsieht – von "Österreich-Ungarn"; mit dem Doppelstatus Ungarns, einmal im Verbund der k.u.k. Monarchie (Kakanien) und das andermal als eigenes Staatsgebilde kommt der Journalist Bloch nicht zurecht. Er mischt im Kritik-Eifer alles durcheinander. Dabei kommen ihm Unfreundlichkeiten gegenüber Ungarn leicht in den Griff.
Richtig jedoch hält Bloch fest, dass es, eigentlich um einen "Austritt" aus dem "habsburgischen Stastsverband" geht. 10) Doch rechtfertigt diese Feststellung nicht die vorangegangenen Verwischungen. Ungarn war ja immerhin ein eigenes Königreich, das hätte Bloch bedenken müssen. Und seit 1867 hatte es dauernd Verbesserungen im Bestreben seines Selbständigwerdens erzielen können. Ein Philosoph, der sich noch dazu dauernd der Zukunft zuwenden will, darf geschichtliche Vergangenheit nicht übersehen.
Diese dauernde Unklarheit in der Bezeichnung der Staatlichkeiten, die er kritisieren will, wird gerade am Beispiel Ungarns deutlich und – peinlich. Am 23.10.1918 schreibt er in der "Freien Zeitung" einen Aufsatz "Österreichs Zerfall – eine Lebensfrage deutscher Demokratie" 11) und diese sogar (ausnahmsweise einmal) unter dem offenen Namen Bloch wörtlich:
"Die ungarische Minderheit spielt sich auf als ob auch Ungarn, gleich Böhmen, ein bisher von Österreich unterdrücktes Nationalgebiet gewesen wäre, als ob die Loslösung Ungarns von Österreich genau denselben Befreiungsakt darstelle wie die Konstituierung des tschechischen Nationalstaates. Aber auch Österreich und Ungarn gehören zusammen, sind zwei Ausgaben desselben Prinzips: vereint in der Beherrschung und Ausbeutung nichtdeutscher oder nichtmagyarischer Völker durch Bourgeosie oder den Feudaladel seines deutsch-magyarischen oder zu den Deutschen haltenden Herrenvolkes."
Wir müssen da – die sicherlich bedenklichen Zeichnungen eines sich betont "Philosoph" bezeichnenden Journalisten – festhalten: dasselbe Prinzip, Beherrschung, Ausbeutung, Herrenvolk usw. Und dann folgt die Aufstellung eines Gebotes, das weder die Geschichte noch wir Heutigen anerkennen können. Es heisst:
"Daher muss Ungarn im Vollzug derselben nationalen Berreiung als Herrenstaat über fremde Völkerschaften verschwinden wie Österreich: denn dass zwischen beiden vor 50Jahren ein Beherrschungsausgleich auf Halbpart geschlossen wurde, darf den magyarischen Zwangsstaat nicht schützen".
Auch diese Charakterisierung "Beherrschungsausgleich auf Halbpart" muss dem stets mit "böser Zunge" (so Theodor W. Adorno) kritisierenden Autor angekreidet werden.
b.) Die Utopie "freier Völker"
Es war nicht einmal ein origineller Traum, den Ernst Bloch hinsichtlich des Schicksals der einzelnen Völker bei einem Zusammenbruch der beiden Kaiserreiche erzählte: die Bildung eines besonderen "demokratischen" Sammelstaates im Süden des Reiches. Die Bezeichnung vom Rhein bis zur Donau (denn er nennt Baden, Deutsch-Österreich, allerdings auch Tirol, Teile der Schweiz, Bayern) vermeidet er. Die Klarsicht würde den verspotteten "Donauromantikern" nun eben doch eine nicht a limine abzuweisende Qualität vermitteln. Varianten dieser Süd-Pläne hören wir heute noch, auch dies erfolgt heutzutage doch wohl in etwas wissenschaftlich oder statistisch untermauerten Vorschlägen. Und der Denkansatz geht von der vorhandenen Realität aus. Dies fehlt bei Bloch. Schimpfend wir immer, ist sein Ausgangsgedanke: "Österreich-Ungarn ist der Gestank, der der Welt im Wege liegt". 12) Als Heilmittel schlägt er eine neue "Gaueinteilung" vor. Uns Heutigen gruselt bei dem Worte "Gau" oder gar "Gaueinteilung", obwohl natürlich Bloch die spätere Abnützungserscheinung dieser Nomination "Dritten Reich" nicht voraussehen konnte. Dass aber bei dieser neuen "Gaueinteilung" es Gebiete geben wird, die "nicht von österreichischer Verlogenheit" zugrunde gerichtet werden können 13), ist sicherlich auch als Zeitungsknüller nicht geschichtlich haltbar.
Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass sich all diese Schimpfworte auf die damalige Struktur der staatlichen Gebilde beziehen. Die heutigen Staatlichkeiten leben zutiefst von ihrer Geschichte. Und gerade die beschimpften Staaten haben heut als den Kern ihrer sozialen Schichtung die Kräfte in sich, die Bloch damals anzielte. Es kommt daher heute noch darauf an, ob diese Beschimpfungen ganz oder teilweise berechtigt waren. Wenn Ernst Bloch gegen Ende seines Lebens einen Staat beschuldigte, weil er in diesem mit 72 Jahren in den Ruhestand versetzt wurde und gleich darnach in einem anderen Staat die politische Propaganda für Arbeitsplatzbeschaffung von Nachwuchskräften bejahte, wird ersichtlich, dass es Ernst Bloch zumeist auf seine eigenen Belange ankam.
Auch eine Presse-Herrschaft und eine Reglementierung durch stets nur "schimpfende" Journalisten würde sich mit dem Programm des "freien Volkes" kaum vertragen. Die vielfachen Erörterungen, über die Presse und ihre Redakteure entbehren der Selbstbeachtung und – anwendung. 14) Bloch bezichtigt seine "Kollegen". Gewiss hat er in vielen Fällen recht, aber nicht pauschal. Auf den Gedanken, am eigenen Erzeugnis die Qualität des Tadels auszurichten, kommt er nicht. Forsch schreibt er:
"Zieht man die Schuldigen vor den Staatsgerichtshof, wohlabgestuft, so dürfen auch die deutschen Journalisten nicht vergessen werden. Sie haben die Lüge in einer Weise gezüchtet und vermehrt, die nicht zu überbieten ist. Die deutsche Presse war eine einzige Nährbouillon für den Volksbetrug der deutschen Regierung".
Bloch wird gerne persönlich. Er beschimpft seine Gegner in ein Jargon, der eines "Philosophen" kaum würdig erscheint. Den "Leitartikler der Nationalzeitung" nennt er gleich zu Anbeginn und nicht etwa als Resultat seiner Überlegungen und Gegenthesen einen, den tiefe Unaufrichtigkeit, Unehrlichkeit, eine Verdrecktheit (seiner) wahren Absichten auszeichnet". Gilt nicht auch für die Bloch’sche Journalistik, was Bloch selbst schreibt: es ist zu verlangen, "dass jeder Mensch bei sich selbst anfängt, ehrlich zu werden, zu bereuen". 17)
2) Marxismus-Splitter
Wir sehen in diesen Aufsätzen und Schriftstücken der Jahre 1917-1919 zahlreiche aus Hegel übernommene und Marx oder andere sozialistischen Autoren zu Wort kommen lassende Begriffe, die alle in der späteren Arbeit Ernst Blochs wiederkehren und alsdann, aber erhebliche Substanzverlagerungen bei der Begriffsverwendung, zur meist dogmatisch vorgetragenen Linie der Funktionärsklasse sozialistischer Staaten aufweisen. Wir vermögen diese Erkenntnis nicht mit der von Lenin vertretenen Elastizitäts-These für alle Begriffe zu bereinigen. Noch weniger kann Husserl Lehre vom "Vorbegriff" die Erklärung für diesen Vorgang abgeben. Es bleibt diese Tatsache im Aspektbereich dessen, was Hegel als "Akkomodation" vorgeworfen wurde. 18)
Nehmen wir als Beispiel Sätze über die Basis-Überbau-Lehre des Marxismus, die Bloch während seiner Leipziger Zeit sicherlich niemals in der Formulierung und Fassung der Schrift "Vademecum für heutige Demokraten" mehr vertreten hätte. Dass Hegel in der von Bloch später viel zu wenig beachteten "Landständeschrift" bereits die Basis-Überbau-Lehre, wie jedem undogmatischen Marxisten ersichtlich, vorweg-genommen hat, mag festgehalten werden, wenn wir "Vor-Begriffe" etwas berücksichtigen wollen. Zunächst verkündet Bloch seine Kritik am bisherigen "Analysieren" der Basis. Er schreibt:
"Derart also analysierte man die physische Welt bis auf Druck und Stoss, die moralische Welt im Marxismus total auf ihre ökonomischen Elemente herunter, denen gegenüber Sittlichkeit und Geist lediglich (wie der Gedanke im Gehirn) als Begleiterscheinung, abhängiger Überbau, als selber substanzlose Ideologie fungierten." 19)
Die politische Nutzanwendung des ideologischen Verrufs zieht Bloch alsdann am Beispiel Preussen und Österreich. Er bemerkt dass aus dieser Sicht "vieles erklärt" werden kann. Aber: "Nicht einmal der deutsche Krieg kann restlos aus Interessenkämpfen erklärt werden, so phrasenhaft und ideologisch auch seine dürftigen geistigen Verbrämungen sind". Und weiter heisst es:
"Mindestens hat sich…in Preussen und Österreich aus früheren
Wirtschaftsepochen noch eine unterdes verfestigte, Herrschgesinnung erhalten, die nunmehr wie ein Körper mit eigener sozialer Dynamik sich bewegt."
Die "Herrschgesinnung" mit eigener sozialer Dynamik würde im hegelschen Basisbegriff 20) trotz der dort betont eigengesetzlichen Macht und kraft des Geistes kaum Grundlagen finden. Grenzt die Bloch’sche "Herrschgesinnung" etwa an Freuds "Herrschertrieb" an? Oder an den von allen Tiefenpsychologen so verehrten "Aggressionstrieb"? Keinesfalls kann solche "Gesinnung" eine "eigene soziale Dynamik" beanspruchen. Sie würde leer und unbezogen im geistigen Bereich, ja nicht einmal in diesem, da sie ja nur "Gesinnunng" ist, also im Trüben fischen. Hier hat sich bei Bloch gegenüber allem materialistischem Denken die Utopie einer "Verfestigung des Überbaus" nicht bewahrheitet. Keinesfalls anerkennen wir dieses Rangverhältnis für den Überbau, dem Bloch "bis zur selbstständigen sogar gegenökonomischen Funktion" (Unterstreichung von mir, WRB) Einfluss zuspricht. Gewiss: die dogmatische Schwarz-Weiss-Zeichnung zwischen "Ideologie" (im vollen, kräftigen Sinne) und Basis (als "Ökonomie" abgekürzt) kann für den echten Materialismus nicht gelten. Wir haben lange Jahre nach dem II. Weltkrieg während der Neubildung sozialistischer Staaten und deren geistigen Grundlegungsmassnahmen zunächst allein, dann aber doch immer mehr Freunde findend, bemerkt, dass bei Annahme eines Widerspiegelungsverhältnisses zwischen Basis und Überbau eben das Phänomen der Rückspiegelung und deren ungeheure Kraft Beachtung finden muss.21)
Hingegen vertritt Bloch die Meinung, dass diese "eigene soziale Dynamik" der "Herrschgesinnung" (sc. des ideologischen Überbaus) "Marx in seiner liberalen Zeit" und bei Fehlen der entsprechenden "Umwelt" noch nicht ersehen konnte. Bloch hat später diese seine damalige Meinung zwar nicht korrigiert, aber doch beiseite geschoben. Sie bleiben aber Vorläufer seiner späteren Thesen und verdienen insoweit Bemerkung, als hier ein (allerdings untauglicher) Versuch vorliegt, die dogmatischen Grenzlinien eines späteren, festgefahrenen Marxismus zu sprengen. Der Bloch’sche Rückgriff auf Max Weber in diesem Zusammenhang 22), der zusätzlich und neben dem "Wirtschaftsethos" ein kräftig mitspielendes "Religionssystem" im Sektor des "Überbaus" einsetzen will, belegt unsere Ansicht, dass sich hier Bloch’s spätere marxistische Thesen nur im Stadium des Suchens bewegen. Dabei kommt einer der seltenen Ausblicke zu Zimmerwald und dem dortigen sozialdemokratischen Geschehen in das Denken Blochs, natürlich eine Kritik und wie immer eine spitzige, gewürzte Rede. Bloch schreibt:
"Zimmerwald also, auf dem ideallosen Grund derart total ökonomischer Geschichtsauffassung errichtet, bald von denen gebraucht, die vor der
Bekämpfung des Kapitals nichts zu fürchten haben und ebenfalls die Ideen hassen, ist sachlich ödestes Misstrauen, lebloser Materialismus geworden." 23)
Ferner heisst es:
"Und ebenso rächt sich der Materialismus, die geringe Achtung vor Ideen, wie Freiheit, Liebe, Person, Menschenrechte, von Mystik ganz zu schweigen, in der totalen Sozialdiktatur des Bolschewismus, die wie ein neues Preussen (Unterstreichung von mir WRB) anmutet."
Wir müssen festhalten: Bloch sieht eine "totale Sozialdiktatur des Bolschewismus". Bloch belegt die erste Zeit Lenins als Staats-und Parteiführer mit dem als Schimpfwort für ihn geltenden Namen: "Preussen". Der spätere Lepiziger Hochshullehrer sprach anders. Der Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland wiederum anders. Und in diesem "Neu-Preussen" könnte, so spottet Bloch weiter, eine "ganze Siegesallee vergangener Sozialreformer" errichtet werden. Ist das nicht anderswo auch der Fall?
In der Schlussbeschimpfung auf Österreich, wobei dessen bekannte Fehler geradezu einseitig und übertrieben vorgestellt werden 24), sieht Bloch nur noch den "Zwangsstaat", das "Komödienvolk in Österreich". Österreich stellt ihm als das "reaktionäre Prinzip" dar. Es kann nur als "furchtbarer Polizeistaat" leben. Es bleibt "jede politische Korreption" möglich. Österreich könnte nach Bloch nur dann, wenn eine "siegreiche politische Demokratie" den "Baugrund für eine soziale Demokratie bilden" würde, dies nicht "wirtschaftlich, sondern nur von ihrem institutionellen Geist" her überwinden. 25) Angezielt muss die ganze k.u.k. Monarchie gelten, da Bloch reinlich zwischen dieser und "Deutsch-Österreich" unterscheidet. Nach dem Krieg sollen aber alle Länder die "Erledigung" "nicht sozial" finden. Den Wiederaufbau soll der "institutionelle Geist" leisten. Und dieser Neuaufbau soll – man staune, was da Bloch denkt und schreibt – "nicht sozialistisch kompliziert" werden. Man mag zu allen politischen und philosophischen Fragen Blochs stehen wie man mag, dass ein sozialistischer Staat einer solchen These nicht zustimmen kann, wird verständlich erscheinen.
3) Blochs Eintreten für Lukács
Wir finden in dem Sammelband der Schriften Blochs aus den Schweizer Jahren 1917-1919 mehrfach Lukács erwähnt, ja auch ausschliesslich ihm gewidmete Artikel. Als bekannt mag vorausgesetzt werden, dass Bloch von Heidelberg her Lukács sehr gut kannte und mit ihm zusammen philosophische Zirkel und Arbeiten absolvierte. Anlässlich seiner Übersiedlung in die Schweiz hatte er zweimal an Georg Lukács geschrieben. 26) Martin Korol bemerkt, dass in dieser Zeit etwa die "Freundschaft mit Lukács brüchig geworden" sei. Der Kurzvermerk am Ende des gleichen Bandes über die Namensliste der erwähnten Personen hält fest, dass die Freundschaft "unterbrochen" war, später aber "wieder auflebte". 27) Ob dies "Wiederaufleben" etwa nur einseitig war? Jedenfalls kamen Freundschaftsbrüche und Wiederauflebensaspekte (aus der Sicht Blochs) in seinem Leben häufiger vor. Später gab es solch einseitiges "Wiederaufleben" einer angeblichen ehemaligen Freundschaft mit Adorno auf dem II. Internationalen Hegel-Kongress, von dem die Witwe Blochs träumt, "Adorno habe dem bevorstehenden Wiedersehen entgegen gefiebert". 28)
Die Beziehung Bloch – Lukács wird meist in allgemeinen, oft romantisch ausgeschmückten Sätzen geschildert und gepriesen. Ich glaube, sie war von anfang an: kritisch. Bloch konnte ihm gleich engagierte Denker meist nicht allzulange an sich binden. Aber: in den Jahren 1917-1919 und vor allem 1919 hat er sich Lukács gegenüber tapfer und einsatzbereit verhalten. Er hat zusammen mit Thomas Mann, Heinrich Mann, Richard Dehmel u.a. einen "Aufruf" in der "Freien Zeitung" veröffentlicht, der von ihm entgegen sonstiger Gewohnheit, mit eigenem Namen gezeichnet wurde: "Aufruf für Georg Lukács in Budapest". Wahrscheinlich war Lukács am 27.8.1919 nicht in Budapest, wie bloch anführt, sondern in Wien, wohin er geflohen war. Doch uns stellt sich die Frage: haben solche Aufrufe, wie sie ja häufig in links-orientierten Publikationen erscheinen, Erfolg? Die "Freie Zeitung" wurde kaum nach Ungarn geliefert. Sie war schon in Österreich und im Deutschen Reich kaum zu bekommen. Die angesprochenen Kreise lasen sie bestimmt nicht. Andrerseits: was sollen oder können diese oppositionellen Kräfte viel anders tun, wenn sie dem Terrorismus verabscheuen und doch eingreifen wollen? Der Aufruf und seine Textierung müssen als ein Meisterstück bezeichnet werden. Logisches mit Historischem zusammengeschmolzen fordert er Lukács "für uns, einem wahrnaft nicht überbelichteten Land" (Deutschland).
Ein weiterer Hilfe-Artikel erschien alsdann in den "Weissen Blättern". 29) Er trug die Überschrift "Zur Rettung von Georg Lukács". Seine Devise lautete: "Lukács ist menschlich unantastbar." Als "Philosoph ist Lukács, einer der Grossen". "Er hatte niemals eine andere als eine rein geistige Stellung in der Ungarischen Republik". Und dann kommt Bloch auf das "Hauptwerk" von Lukács zu sprechen "eine "Ethik". Es heisst: "Es wird eine Ethik sein, weit und streng wie das Werk Spinozas, aber mit noch tieferem Recht, als dieses auf seinen aller Disziplin überlegenen Titel". Tolstoi und Dostojewski werden beschworen und vor allem dabei die Söhne Iwan und Aljoscha Karamassows.
Lukács hat anfangs der 60er Jahre, als ich ihn mehrmals in Budapest besuchte, immer von seinen Arbeiten an der "Ethik" erzählt. Ich wunderte mich oft, denn wir kannten Lukács doch von anderer Seite her, von der Geschichte, vom Realismus, von den Roman-Kritiken und vor allem - wie in der DDR jedermann damals sagte – als "Literaturpapst". Lukács – so mag Goethe im Alter immer von seinem noch zu vollendenden "Hauptwerk" gesprochen haben – thematisierte dieses ihm noch zur Vollendung aufgegebene "Hauptwerk" mit "Ethik", liess aber keinen Zweifel darüber, dass ein solch umgreifender Titel auch Philosophie beinhalten werde. Das sah schon Bloch, in dem er in dem Aufruf zur Rettung von Georg Lukács gerade darauf hinwies, dass diese "Ethik" die "Philosophie Iwan und Aljoscha Karamasows ans Zeil bringen würde".
Eine Philosophie "ans Ziel bringen" – Hegel würde sagen, in ein System bringen -, das hatte auch Bloch einmal als Abschluss, als Krönung seinen Denkens, allerdings erheblich romantisch ausgeprägt und mit literarischem Beiwerk geschmückt, vorgehabt. In Frankfurt Main, allwo ich ihn zu fast gleicher Zeit, als ich in Budapest mit Lukács mehrfach sprach und zwar im Grunde zum gleichen Thema (einen Beitrag für das von mir redigierten Gedenkbuch für meinen Freund Josef E. Drexel, dem Schwerverfolgten der Naziverbrecher 30) erbittend), lange bei reichlichem Rotwein zur Aufdeckung seiner literarischen Pläne verlocken konnte. 31) Ein "Versöhnungsgespräch" zwischen Hegel und Schelling, dichterisch in Frankfurt am Ende des Lebens beider, als eine "Sternstunde der Menscheit". Bloch gab damals den erbetenen Beitrag zum Bande "homo homini homo" 32) nicht. Lukács gab ihn "Die Szenik bei Shakespeare". 33)
Beide, Bloch wie Lukács hatten bei den Vorbesprechungen jeweils gefragt, wer "noch mitmache". Beiden wurde der jeweils andere Name als "um einen Beitrag gebeten" genannt. Beide – alles vollkommen unabhängig von einander und jeweils anders thematisiert, schwiegen bei Nennung des anderen Namens. Beiden schien dies etwas pikant oder peinlich, nun zusammen in einem Werk zu stehen. Bloch war bei mir nie auf seine Emeritierung in Leipzig zurückgekommen; Lukács kam mehrfach und sichtlich tief getroffen auf die gegen ihn erlassenen Druckverbote (damals!) in der DDR zurück. Auf das Thema der Übersiedlung Blochs in die Bundesrepublik reagierte er nicht. Als ich auf die Frage von Lukács, ob Bloch zugesagt habe, mit "noch nicht" antwortete, lenkte er sofort die Unterhaltung auf "andere Philosophen" und bald auf Heidegger. Er hätte es anscheinend sehr gerne gesehen und für seine damals sehr schwierige Position in Ungarn auch gerne gesehen, wenn ihn der nun eben allseits bekannte Heidegger einmal persönlich angegriffen hätte. Eine Verurteilung durch Heidegger schien ihm als eine Rechtfertigung in Ungarn (oder in der DDR, auf deren Publikationseifer er immer wieder zu sprechen kam). Ich nehme aber an, dass solche – zwar deutlich gewordenen – Hintergedanken nicht mit einer "Eitelkeit"34) Lukács’ zu tun haben. Ich kenne einen jüngeren Philosophen, der sich Marxist nennt und zur dogmatischen Funktionärsgruppe rechnet, der einmal in Stuttgart auf einem Kongress buchstäblich darnach fieberte, von Habermas apostrophiert und bekrittelt zu werden. Die Sache ging ihm aber danaben - und wurde zur Lächerlichkeit. Das nenne ich "Eitelkeit" eines Autors.
Auch Georg Lukács’ Erwartung der namentlichen Erwähnung durch Heidegger ging nicht auf. Er hatte gehört, dass Heidegger "ein neues Buch" verlegt haben soll, in welchem er den Marxismus und gerade die von ihm vertreten materialistischen Gedanken angreife. Ich konnte ihm sofort Titel des Buches angeben und dann auch in wenigen Wochen ein Exemplar mitbringen: Verfasser war der Jesuitenpater William J. Richardson aus Löwen (Belgien). Der Titel heisst "Heidegger. Through Phenomenology to Thought. Mit einem Vorwort Martin Heidegger". 35) In dem Band veröffentlicht Heidegger neben seinem Vorwort ein "Verzeichnis seiner Vorlesungen und Übungen" mit einer einwandfrei als Geschichtsfälschung zu bezeichnenden Angabe über seine Tätigkeit von 1944 bis 1951 und im Zusammenhang damit auch Bemerkungen über seine Rektoratstätigkeit 1933/1934. 36)
Lukács hatte erwartet, dass Heidegger zum Thema der "Ontologie" einige Angriffe gegen ihn richtet. Dies Thema findet sich in seinen eigener Werken ja häufig. 37) Aber es war damals die Zeit, in der noch Heideggers "Humanismus-Brief", den er 1947 in der Schweiz (!) veröffentlichte, lebhaft erörtert wurde. Er galt als ein Zeichen eines gewissen Opportunismus, da er eine ungemein deutliche Anpreisung von Marxens Geschichtsdenken enthielt. Man nahm dies zwar nicht als eine erneute "Kehre" Heideggers, aber ein bewusstes Offenlassen für das Mögliche, das eben als seinsgeschichtlich wie seinsgeschicklich erscheint. Heidegger kommt sogar zur Darstellung eines marxistischen Begriffs der "Entfremdung". 38) Hier hatte Lukács den Ansatz gesehen, an dem "Seinsgeschick-Gedanken" anzuknüpfen und ihn namentlich zu nennen. Denn gerade er hatte die ja "im metaphysischen Gewande" oder gar als metaphysische Frage nach Meinung Heideggers vorgetragene Heidegger-Kritik lebhaft vertreten. Aber: Heidegger hält kaum einen, deutschen oder ungarischen Marxisten für würdig, von ihm namentlich genannt zu werden. Das wäre ihm zuviel Ehre gewesen. Ein solch – von Heidegger angeregtes – "produktives Gespräch" zwischen Heidegger und ihm würde ihm – so meinte Lukács – bei dem Bemühen, in der DDR wieder publizieren zu können, viel nutzen.
Es war nicht so. Erst 1985 konnte Lukács wieder ernsthaft in der DDR zitiert werden. Und dies – meine Beurteilungen sind das Ergebnis 30jähriger Beobachtung und Selbst–Erfahrung – erst im Zusammenhang mit einer "Jahresfeier" (runde Zahlen der Geburt). Und ganz ähnlich, ja fast noch schlimmer erging es Bloch in der DDR. Schon die Namensnennung brachte den Doyen des Purismus bei der Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Zeitschrift für Philosophie in Rage, die oft so heftig war, dass sich seine Worte überschlugen und Handbewegungen dazu kamen. Vor 20 Jahren ungefähr hatte er angeregt, mit ihm ein dickes Buch als "Antibloch" herauszubringen, was ich natürlich abgelehnt hatte. Aber auch gegen Lukács waren diese Abweisungen deutlich: bei einem Budapestbesuch lehnte dieser Purist es ab, mit mir Lukács einem Besuch zu machen. Er "wollte den Namen gar nicht hören". Noch viel später, es war anfangs 1981, kam er mit seinem Schildknappen zu mir nach Salzburg und forderte lebhaft, dass in einem beim Akademie – Verlag in Berlin (DDR) bereits im Druck befindlichen Buch: "Hegel – der Triumph des neuen Rechts" noch ein Zitat von Lukács aus dem 1948 beim Europa-Verlag in Zürich /Wien gestrichen werden müsse. Ich akzeptierte diesen "Befehl" nicht. Das Buch musste daher in der Bundesrepublik erscheinen (im VSA-Veralg, Hamburg).
So hatten Bloch und Lukács zusammen, gewissermassen als Negativum, die DDR-Verurteilung erlitten. Und: 1985 hatten sie nun gemeinsam diesen come-back in der DDR erfähren dürfen! Wer weiss, welche Besprechungen, Beratungen und Diskussionen einem solchem Geschehen vorauszugehen pflegen, wird gerade diese zeitliche Übereinstimmung beachten. Bloch und Lukács, beide als undogmatische Marxisten, haben ein gemeinsames Schicksal so erlitten, das philosophie-geschichtlich zu bedenken bleibt. In der DZfPh lesen wir über Lukács 1985, S.289 und S.931, über Ernst Bloch S.619 und 1123. Hier wird sogar von einer "Bloch-Rezeption" gesprochen. Auf S. 1129 ff. wird über ein eigenes "Bloch-Kollegium" berichtet. Auf diesem hat der Vertreter des Purismus in der DDR sogar auf Lukács’ abschätziges Urteil über Bloch hingewiesen, aber im Grunde genommen beide als "zwischen den Fronten" zu zeichnen versucht.
Bleibt – geschichtlich, oder (etwas spöttisch ausgedrückt) seinsgeschichtlich nur die Frage: wer zieht denn die "Front"?
Wilhelm Raimund Beyer, Salzburg
Anmerkungen:
1) Erschienen 1985 im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, unter dem Titel "Ernst Bloch. Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917-1919". Der Arbeitstitel, unter dem auch die ersten Ankündigungen erfolgten, hatte das Jahr 1789 als den Beginn der Französischen Revolution mit erwähnt. Warum eine gewisse Parallel – oder Interpretationsfunktoin den Jahren 1917 – 1919 zugesprochen und dieser Untertitel dann fallen gelassen worden war, blieb unbekannt.
2) Siehe: Wilhelm Raimund Beyer "Bibliographie". 2. Auflage bei Europa-Verlag, Wien, 1972 Seite 69 ff.: "Aus der Geschichte der Internationalen Hegel-Gesellschaft: Adornos "Versöhnung" mit Ernst Bloch".
3) Siehe: Renate und Gerhard Schmolze: "Kurt Eisner". Die ½ Macht den Räten". Hegner Bücherei, Köln, 1969. ab S. 14 ff. Eisners Leben und seine Tätigkeit sahen wir – in Nürnberg und München – wohl etwas anders als die Verfasser dieser seines "Lebenswegs" und vor allem anders als Ernst Bloch, der wohl Eisner nie persönlich in der Schweiz oder sonstwo gesprochen hat. Dies hätte Bloch sicherlich erzählt. Eisner, immerhin Philosophie-Student bei ganz "Grossen" (z.B. Cohen), der bald in die Tagespolitik und vor allem in die Parteipresse vordringt, war eine äusserst interessante Figur. Der leidenschaftliche Hass zu Auer, dem Leisetreter und Intriganten der damaligen Münchner SPD, steht hinter dem Mord an ihm durch den Grafen Arco-Valey 1919, der alle ernsthaften Zeitgenossen damals aufrüttelte.
4) Ernst Bloch "Kampf, nicht Krieg", aa0., S.436
5) aa0., S.96
6) aa0., S.113
7) aa0.
8) aa0., S.117
9) aa0., S.123
10) aa0., S.129
11) aa0., S.371 ff
12) aa0., S.481
13) aao. S.488
14)aa0. Artikel "Entfesselung der Pressfreiheit", S.449. Hier lesen wir die albernsten Eigen-Netzbeschmutzungen. Gerade die linken, die sich "fortschrittlich" nennenden unzähligen Wau-wau Redakteure geilen heute noch "Anzeigen" für ihr Blatt. Auch die sozialische Presse kennt nicht nur Anzeigen; es halten vielmehr "Anzeigen" von Grossfirmen und Organisationen, Öl-Vereinen und Näh-Zusammenschlüsse die "linke" Presse in den westlichen Staaten geradezu aus. Diese wären alle ohne die "freundschaftlichen" Anzeigen längst verschwunden. Was sagt Ernst Bloch dazu? Wie beschimpft er seine eigenen Berufskollegen? Wie beschmutzt er das eigene Nest? Er schreibt aa0., S.449: "Sofern sie (sc. die "Zeitungsschreiber", nebenbei: so nannte sich Hegel in Bamberg!) nämlich verächtliches Ungeziefer sind, oder sollte dies zu stark sein, fast durch die Bank armselige und charakterlose Kreaturen, die ihr bisschen stilistische Fertigkeit industrialisiert haben, um dem Annoncenteil einen anlockenden Textumschlag zu geben". "Nicht zehn Gerechte sind hier übrig, und auch deren Kern ist aus wenig anderem als Zeitungspapier". Wo bleibt der Selbstbezug? Die Selbsteinschätzung?
15) Im Artikel "Blick in die deutsche Provinzpresse", aa0., S.426.
16) aa0., S.393
17) aa0., S.523
18) Wilhelm Raimund Beyer: "Die Akkomodation der Hegel-Akkomodationsthese". in "Der ’alte Politikus’ Hegel". Verlag der Marxistischen Blätter, Frankfurt am Main, 1980, S.72 ff
19) aa0., S.514
20) Siehe: Hegel, "Heidelberger Schriften", Band 6 der Glocknerschen Jubiläumsausgabe Stuttgart, Frommanns-Verlag, 1956, S.396/397. Näheres hierzu bei Wilhelm Raimund Beyer "Hegel - der Triumph des neuen Rechts", VSA-Verlag 1981, S.32 ff
21) Siehe: Wilhelm Raimund Beyer: "Der Spiegelcharakter der Rechtsordnung". I. Beiheft zur Zeitschrift für philosophische Forschung. Hain-Verlag, Meisenheim am Glan, 1951
22) aa0., S.515
23) aa0., S.515
24) aa0., 535 ff;539 ff
25) aa0., S.540
26) aa0., S.45
27) aa0., S.611
28) In Erzählungen, aber auch schriftlich in: "Aus meinem Leben". Verlegt bei Neske in Pfullingen, 1981, S.230
29) Martin Korol, aa0., S.570/571
30) Über Josef E. Drexel, der später einmal in Budapest im Petöfi-Klub über die "Literatur in der Bundesrepublik" sprach, siehe: Wilhelm Raimund Beyer (Herausgeber): "Rückkehr unerwünscht. Drexels Reise nach Mauthausen und der Widerstandskreis Ernst Niekisch". 3. Auflage dtv – Verlag, München, 1980.
31) Bericht hierüber von mir im Buche "Freibeuter in hegelschen Gefilden". Verlag Sendler, Frankfurt am Main, 1983, S.71 ff
32) Siehe: "Homo homini homo. Festschrift für Josef E. Drexel". Verlag C. H. Beck, München, 1966. Weitere Beiträge sind veröffentlicht von Karl Löwith, Max Stefl, Walter Muschg, Eduard Goldstücker, Ernst Schuhmacher, Wolfgang Rothe, Marianne Girod, Hans Braun, Günther Anders, Heinz Maus, Erich Heintel, Mario Rossi, Claude Bruaire und mir
33) aa0., S.59 ff
34) Siehe: Zoltán Novák "Das Leo Naphta-Rätsel" in den "Annalen" der Eötvös Loránd-Universität, Budapest, Sektion Philosophie und Soziologie, Jahrgang 1984, herausgegeben von István Hermann und István Pais, Budapest, S.227. ff.
35) Im Verlag Martinus Nijhoff, Den Hag, 1963.
36) aa0. S.668 – 671. Die Widerlegung dieser unwahren Angaben findet sich bei Wilhelm Raimund Beyer "Heidegger über sich selbst – Seltsame Interpretation der Jahre 1933-1951". in "Die Tat", Frankfurt am Main, 1964. S.9 der Nummer vom 24.10.19
37) Heidegger hat im "Vorwort" zu Richardson geschrieben (S. XXIII): "Dass für die Griechen das, was wir gedankenlos genug ’Wahrheit’ nennen, a-laetheia heisst, und zwar in der dichterischen und in der nicht philosophischen ebenso wie in der philosophischen Sprache, ist nicht ihre Erfindung und Willkür. Es ist die Mitgift für ihre Sprache, in der das Anwesende als ein solches zur Unverborgenheit und Verbergung gelangte. Wer für das Erblicken des Gebens einer solchen Gabe an den Menschen, für das Schicken eines so Geschickten keinen Sinn hat, wird die Rede vom Seinsgeschick nie verstehen, so wenig wie der von Natur blinde je erfahren kann, was Licht und Farbe sind". Ferner: "Gemäss dem in sich mehrfältigem Sachverhalt von Sein und Zeit bleiben auch alle ihn sagenden Worte wie Kehre, Vergessenheit und Geschick mehrdeutig. Nur ein mehrfältiges Denken gelangt in das entsprechende Sagen der Sache jenes Sachverhalts. Dieses mehrfältige Denken verlangt zwar keine neue Sprache, aber ein gewandeltes Verhältnis zum Wesen der alten."
38) Heidegger hält im Humanismus-Brief (Ausgabe 1947, Franke-Verlag, Bern, S.61 und 87) fest, dass Marx fordere, es sei der "menschliche Mensch" zu erkennen und anzuerkennen. Und später kommt er sogar zur "Überlegenheit" der marxistischen Anschauung mit den Worten: "Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen." Im Ascnhluss alsdann kommt Heidegger zu der Andeutung, es müsse "ein produktives Gespräch mit dem Marxismus" möglich werden."
FEL