KUTATÁS

Albert Lichtblau

Macht und Tradition

Von der Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus

 

Die "in Meinen Erblanden so zahlreichen Glieder der jüdischen Nation dem Staate nützlicher zu machen", beabsichtigte 1781 der österreichische Kaiser Joseph II., als er die als Toleranzgesetze eingeleiteten Reformen für die Juden ankündigte. Die "Verbesserungsmöglichkeiten" und die "Unnützlichkeit" sahen ambivalente Aufklärer wie er vordringlich in der wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden, in - Zitat Joseph II. - "dem ihnen so eigenen Wucher und betrügerischen Handel" und in den vielen verarmten und bettelnden Juden.

 

Während die Aufklärer von der Möglichkeit einer "Verbesserung" der Juden ausgingen, waren die Gegner der Aufklärung zumeist von deren "Unverbesserlichkeit" überzeugt. Sie agierten ebenfalls mit wirtschaftlichen Argumenten und ergänzten diese mit weiteren: die Juden seien feig, niederträchtig, als "Fremdlinge unter uns" treulos, faul, rachgierig, würden die Christen hassen, sie wollten über andere Völker herrschen oder sie gar ausrotten. Das sind nur einige Beispiele für die später bis zur Unerträglichkeit wiederholten Darstellungen eines angeblich stabilen, kollektiven jüdischen Charakters. Selbst Anklänge einer rassistischen Argumentation wurden bereits Ende des 18. Jahrhunderts laut: Der Übertritt zum Christentum könne die Juden keineswegs ändern.

 

Das Verhältnis zu den jüdischen Minderheiten veränderte sich im 18. Jahrhundert durch die rationalistische Denkweise, im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem durch die Ideen der Aufklärung und im 19. Jahrhundert durch die jahrzehntelang andauernde Diskussion über die Möglichkeit der Gleichberechtigung und schließlich durch ihren Vollzug. Bis zur Gewährung der Gleichberechtigung legitimierten diskriminierende Gesetze das privilegierte Verhältnis der Nichtjuden gegenüber den Juden. Als sich mit der Aufklärung ankündigte, daß der durch Staats-, Länder- und Kommunalgesetze untermauerten Diskriminierung der Boden entzogen wird, suchten die Judenfeinde nach neuen Strategien und Argumenten, um ihren Machtanspruch zu bewahren. Eine breite Debatte über die Sinnhaftigkeit der Gewährung der Gleichberechtigung begleitete das aus der Sicht der jüdischen Geschichte von ca. 1780 bis 1870 dauernde "Zeitalter der Judenemanzipation" von Beginn an. Die von den Emanzipationsbefürwortern an die Juden gerichteten Erwartungen waren allerdings verwaschen oder unerfüllbar. Ein Beispiel: Trotz etlicher Bemühungen auf jüdischer Seite, konnte eine soziale Mobilität vom Handel zum Handwerk oder zur Landwirtschaft unmöglich erfolgen. Dennoch näherten sich Juden und Nichtjuden im 19. Jahrhundert an, und die Grenzen verschwammen. Galt die Integration eines Moses Mendelssohn (1729 - 1786) in Berlin noch als Erfolg eines einzelnen, konstatierte ein Gutachten der Hofkanzlei in Wien im Jahr 1833 die Auflösung der früheren Isolation der Juden: "Die hiesigen Israeliten stehen in fortwährender Berührung mit allen Klassen der Residenzbewohner, und zwar nicht bloß im Geschäfts-, sondern auch im geselligen Leben; ihre frühere Isolierung hat seit geraumer Zeit beinahe gänzlich aufgehört. Die Abneigung der christlichen gegen jüdische Religionsgenossen, welche letztere von den ersteren entfernt hielt, ist größtenteils verschwunden." Aber im binären Denkschema der Judenfeinde gerieten die Juden immer mehr auf die Seite des Negativen, wo sie als Kontrapunkt fungieren sollten- gegenüber Deutschen oder anderen Nationalitäten, Christen und später sogenannten Ariern.

 

Die Veränderung der Machtbeziehung durch die Emanzipation

 

Die folgenden Überlegungen sollen der Frage nachgehen, inwieweit sich die Position der Judenfeinde durch die Emanzipation der Juden veränderte. Daran anschließend wird die Frage gestellt, inwiefern zwei zentrale Argumente der traditionellen Judenfeindschaft, das wirtschaftliche und theologische, in der Form des "modernen Antisemitismus" übernommen und den neuen Bedürfnissen angepaßt wurden.

 

Als die Judenfeindschaft mit dem Entstehen des "modernen Antisemitismus" in Deutschland ab 1879 eine neue Qualität annahm - jene der parteipolitischen Massenbewegung - konnte sie auf die Argumentationsmuster der vorangegangenen Auseinandersetzungen zurückgreifen. Nicht die Argumente des modernen Antisemitismus waren neu oder besonders originell, neu war die Ideologisierung der Judenfeindschaft in Verbindung mit Gesellschaftskritik. Antisemiten verknüpften ihre Kritik an den gesellschaftlichen Schwachstellen mit heilsversprechenden antijüdischen Gesellschaftstheorien. Neu war auch der erfolgreiche Aufbau einer Infrastruktur von antisemitischen Vereinen und Parteien, Treffpunkten, Zeitungen, Klubs und somit einer tagtäglichen antijüdischen Propaganda, die bis 1945 nicht mehr abbrechen sollte. Neu war auch die Position der Judenfeinde durch die Gewährung der Gleichberechtigung. Bemühten sie sich bis zur Emanzipation defensiv und meist gesellschaftskonform um die Beibehaltung diskriminierender Gesetze, forderten sie danach offensiv und anfangs gesellschaftskritisch die Wiedereinführung ausgrenzender Maßnahmen.

 

Minderheiten befinden sich immer in einem Machtverhältnis zu Mehrheiten, wobei zumeist die Mehrheit die Minderheit dominiert. Obwohl mit geringerem Einfluß ausgerüstet, nehmen auch Minderheiten aktiv teil am Machtverhältnis. Protest, Passivität und Kollaboration markieren die Eckpfeiler ihres aktiven Handelns. Die Sprecher der jüdischen Minderheiten versuchten in ihrer Verteidigung gegen den Antisemitismus auf die Rechtsstaatlichkeit zu pochen, auf ihre Rolle als voll integrierte Religionsgemeinschaft. Als Antisemiten jedoch in die Parlamente und in bedeutende Funktionen gewählt wurden, gab es kaum mehr eine Handhabe gegen deren wüste Beschimpfungen. Die Gerichtsverfahren und politischen Interventionen erwiesen sich als wenig effektiv, um die ständigen Verleumdungen zu unterbinden. Die Verzweiflung über die nicht gelungene Integration in die bürgerliche Gesellschaft und die Bedrohung durch den Antisemitismus führten schließlich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer theoretischen Reaktion, dem Zionismus.

 

Aber wir konzentrieren uns hier auf die Stellung der Judenfeinde. Die Machtausübung von Mehrheiten über Minderheiten läßt sich generell unter folgenden Gesichtspunkten untersuchen:

1) Identifikation: Eine Gruppe muß als solche erkannt und durch Merkmale gekennzeichnet werden (gegenwärtig beispielsweise: ausländische Staatsbürger).

2) Ausgrenzung: Es werden Maßnahmen gesetzt werden, um eine Gruppe von der Mehrheit abzusondern (gegenwärtig: Ausländerbeschäftigungsgesetze, Aufenthaltsgesetzgebung, Asylgesetz, Wahlgesetz).

3) Kontrolle: Um die Machtausübung durch Ausgrenzung sicherzustellen, muß diese kontrolliert werden (gegenwärtig: Fremdenpolizei, Arbeitsmarktverwaltung, Grenzkontrollen).

4) Therapie: Die machtausübende Mehrheit verlangt von einer Minderheit bzw. einzelnen Minderheitsangehörigen Handlungen, um die vollständige Gleichberechtigung und Integration zu gewähren (gegenwärtig: Annahme der Staatsbürgerschaft).

 

Veränderung des Machtverhältnisses der Judenfeinde gegenüber den Juden durch die Emanzipation

 

Identifikation

Ausgrenzung

Kontrolle

Therapie

rechtliches Machtverhältnis bis zur Emanzipation

Religion

Gesetze

z.B.:-eigene Steuern

-Aufenthaltsverbote

-Ausschluß von

Berufen (Zünfte)

-Einschränkung von

Bildung

-Ausschluß von

politischer

Partizipation

-Beschränkung der

Familienzahl

Behörden und Sonderbehörden

- z.B. das bis 1848 wirkende "Judenamt" in Wien

Konversion

Der Versuch der Judenfeinde, diskriminierende Machtverhälntisses aufrechtzuerhalten

(Fremd-) Stigmatisierung

- Körper

- Namen

- Sprache

- "Charakter"

 

Gegensatzpaare:

- Religion:

christlich-jüdisch

- Nation:

deutsch-jüdisch

-Rasse:

arisch-jüdisch

soziale Isolation

 

 

 

 

 

 

 

 

Forderung:

- erneute Diskriminierung

- Trennung von Juden und Nichtjuden

Kontrolle der sozialen Isolation

- Boykott,

- Diffamierung

- "Arierparagraphen"

 

 

keine ernsthaften Angebote

Ăž Auswanderung

Ăž Vertreibung

Ăž bis hin zu Mord

 

Identifikation

Mit dem Abbau der rechtlichen Sonderstellung und mit der Abnahme der Barriere aus religiösen Gründen, die im Zuge der Säkularisierung sowohl im christlichen als auch jüdischen Milieu stattfand, stand der gegenseitigen Annäherung an sich nichts entgegen, und sie fand auch auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens tatsächlich statt. Der Anstieg von Mischehen zur Jahrhundertwende wäre ein Beispiel für das Wirksamwerden der gegenseitigen Durchlässigkeit. Die Judenfeinde konnten sich somit nicht mehr alleine auf die religiöse Distanz verlassen, sie mußten neue, säkular trennende Merkmale einführen, wenn ihre Strategie erfolgreich sein sollte. Zuallererst mußte es ihnen gelingen, die Juden als Gruppe weiterhin identifizierbar zu halten, und sie konnten dabei auf ein beachtliches Repertoire von Stigmatisierungen zurückgreifen: Seien es Verballhornungen von Namen, Anspielungen auf das Aussehen oder auf Relikte des Jiddischen in der Sprache, vor allem aber waren es Charaktereigenschaften, die sie den Juden generalisierend zuschrieben.

 

Um den Machtanspruch der Nichtjuden über die Juden einzufordern, war es für Antisemiten zentral, die Juden unbedingt als "Fremde", also als Unzugehörige, zu kategorisieren. Dies war einer der Gründe für die besonders heftigen und hämischen Attacken gegen die sogenannten "Ostjuden". Wiederum war die Argumentation nicht neu, sondern fand sich bereits in der Literatur gegen die Emanzipation tief verankert. "Die Juden sind Fremdlinge und sollen es bleiben" übertitelte ein antijüdisch auftretender Autor 1848 eines seiner Kapitel. Ein im November 1879 in den Preußischen Jahrbüchern erschienener Artikel des angesehenen Historikers Heinrich von Treitschke verhalf dem Antisemitismus zu unerwarteter Salonfähigkeit. Er griff das Motiv der "Fremdheit" sofort auf, indem er schrieb: "Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, daß sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesittung nicht ausüben können; über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können."

 

Die Fremdstigmatisierung erlaubte es, die Juden als "Variable" je nach Argumentationsbedarf für Bedrohungen, Unerwünschtes, Schädliches, Negatives und Abzulehnendes einzusetzen, bzw. die trennende Schlußfolgerung eines Heinrich von Treitschke zu ziehen: "die Juden sind unser Unglück." Die antisemitische Literatur beschrieb die Juden beständig als ein (kosmopolitisches) Volk ohne Vaterland, als Staat im Staat oder Nation in der Nation und als "den" ewig wandernden, nomadisierenden Juden. "Jüdisch-asiatische Elemente" oder "Orientalismus" und "orientalische Physiognomie" waren Vorstellungen, die den Weg zu rassistischen Ideologien geebnet hatten. Mit den Kategorien des minderwertigen Charakters und schließlich der Rasse benötigten die Judenfeinde nicht mehr die Distanz auf religiöser Grundlage. Die biologistisch-rassistische Argumentation gegen die Juden gewann bereits am Ende des Vormärzes und in den antisemitischen Schriften des Revolutionsjahres 1848 an Bedeutung, später sollte sich eine pseudowissenschaftliche Legitmität hinzugesellen.

 

Ausgrenzung

Da die Ausgrenzung durch die Emanzipation weggefallen war, suchten Antisemiten nach neuen Strategien der Ausgrenzung. Während die radikalen, in der Fachliteratur wegen ihrer Diskriminierungs- und Gewaltbereitschaft "intentional" genannten Antisemiten gesetzliche Maßnahmen gegen die Juden anstrebten, gingen die moderaten, meist konservativen Antisemiten, wie die österreichischen und deutschen Christlichsozialen, nicht so weit. Beide Gruppen von Antisemiten verband eine Absicht - die Ausgrenzung und soziale Isolation der Juden im gesellschaftlichen Leben. Hauptanliegen war es, Kontakte mit Juden im Alltag, im kulturellen und Berufsleben so weit wie möglich zu verhindern. Das führte soweit, daß antisemitisch geprägte Menschen, die den Kontakt mit Juden nicht vermeiden konnten, sich positive Erfahrungen höchstens mit einem "Ja, wenn alle Juden so wär'n wie ihr, möcht's kan Antisemitismus geben" erklären konnten.

 

Kontrolle

Solange keine gesetzliche Diskriminierung eingeführt wurden, bemühten sich Antisemiten, die Isolation zu kontrollieren. Sie versuchten etwa Organisationen dazu zu bringen, Juden nicht aufzunehmen. Abgesehen von antisemitischen Parteien und Vereinen, die in ihren Statuten Juden die Mitgliedschaft prinzipiell untersagten, verwiesen beginnend mit dem Jahr 1877 die national gesinnten Kooperationen der Studenten in Österreich und Deutschland Juden aus ihren Reihen. Aber erst die erneute Radikalisierung des Antisemitismus durch die vom Ersten Weltkrieg ausgelöste ökonomische und politische Krise verschufen der auf Ausgrenzung abzielenden Politik noch mehr Erfolg. Scheinbar unpolitische Vereine schlossen nun jüdische Mitglieder aus, etwa ab 1920 der Österreichische Touristenclub und ab 1921 Sektionen des Österreichischen Alpenvereins. Einige Gemeinden und Badeorte glaubten in den zwanziger Jahren mit der Ablehnung jüdischer Gäste sogar werben zu können. So sah sich der zum Protestantismus übergetretene Komponist Arnold Schönberg 1921 im salzburgischen Mattsee mit der Aufforderung konfrontiert, nachzuweisen, daß er kein Jude sei. Je mächtiger die radikalen Antisemiten wurden, um so stärker war ihre Kontrollmöglichkeit: Der wirtschaftliche Boykott jüdischer Geschäfte war eine stehende Forderung der Antisemiten, und die Nationalsozialisten scheuten bereits vor ihrer Machtübernahme nicht vor Terrorisierung und Denunziation nichtjüdischer Konsumenten zurück, die bei jüdischen Geschäftsleuten einkauften. Aber für radikale Antisemiten war die Kontrolle der Distanz von Nichtjuden zu Juden immer nur als eine Vorstufe bis zur Wiedereinführung einer Sondergesetzgebung gedacht.

 

Therapie

Besonders gefährlich wurde die Veränderung der Machtverhältnisse im letzten, "Therapie" genannten Bereich. Während gemäßigte Antisemiten vor allem auf soziale Isolation der Juden setzten und wegen ihrer Verfassungskonformität keine tatsächlichen gesetzlichen Schritte unternehmen wollten, war für den radikalen revolutionären Flügel die Unvereinbarkeit des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden ein Faktum. Sie wollten den Juden überhaupt keine Möglichkeit der "Integration" mehr offenlassen. Diese Ansicht sollte noch schreckliche Folgen für die Juden in Europa bringen, denn sie sah in letzter Konsequenz nur brutale Lösungen vor, um einen Kontakt zu verhindern: diskriminierende Gesetze, Vertreibung und letztendlich Mord. In der antisemitischen Literatur ist eine derart radikal gezogene Konsequenz zwar eher selten, aber sie wurde trotzdem - wie das zweite Bildbeispiel zeigt - mehrfach artikuliert. Wenn auch nur in einem Nebensatz, forderte der bekannte Wirtschaftswissenschafter und Philosoph Eugen Dühring 1880 die "Ausscheidung der Judenrace aus dem modernen Völkerleben" als das maßgebende Ziel antisemitischer Politik. Für Volkskräfte mit nationalem Bewußtsein sei es unmöglich, mit Juden auf demselben Boden zusammenzuleben. "Das Wohin ist die eigene Sache der Juden". 1883 überlegten Autoren der in Chemnitz erscheinenden Zeitschrift der internationalen Antisemitenliga und der von Georg Ritter von Schönerer herausgegebenen Zeitung, welche Lösung der Judenfrage die beste sei: die Tötung, die Vertreibung oder die Verhinderung der Inzucht. Die moderaten Antisemiten waren - trotz fadenscheiniger Distanzierungsversuche - durchaus bereit, die Kategorie "Rasse" zu übernehmen, doch derart extreme Gedankengänge vermieden sie. Angesichts tatsächlicher Gewalt, wie der Pogrome in Rußland (ab 1881), mußten sie jedoch dazu Stellung nehmen. Obwohl sie gewalthafte Methoden ablehnten, zeigten sie für Gewalt Verständnis, beispielsweise Adolf Stöcker 1883: "... die Juden sind schuld, weil sie die Nationen bis auf das Blut reizen."

 

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Bildquelle: Kikeriki vom 19. Januar 1911, S. 3.

 

Welche Identifikationsmerkmale Antisemiten den Juden und sich selbst zuschrieben, und wie sie ihren Anspruch auf Macht untermauerten, möchte ich anhand einer Karikatur zeigen. Die Karikatur bezog sich auf die Volkszählung 1910, die in Österreich die nationalistischen Gemüter erregte, da es um die jeweiligen nationalen Besitzstände in der Bevölkerung ging. Die Wiener christlichsozial orientierte Karikaturenzeitschrift "Kikeriki" attackierte die nach Wien und Österreich eindringenden "Fremden": Tschechen (linke Figur) und Juden (mittlere Figur). Die Bildargumentation folgte der in Reden und Artikeln gängigen:

1) Die Gefahr der Unterlegenheit als Aufforderung zum Widerstand: Eine auf Herrschaftsanspruch abzielende Argumentation muß der gegnerischen Gruppe eine Art von Bedrohung zuschreiben, sogar "Übermacht" bis hin zur Fremdherrschaft. Dies zeigt sich auch in der Karikatur. Im rein national argumentierenden Selbstbild des "deutschen Michel" (rechte Figur) wird dieser als kleiner Mann, also bereits unterlegen dargestellt. D.h., er soll die "Gefahr" wahrnehmen, sich wehren und nicht die Hand in die Hose stecken und wegschauen. Wie in den meisten antisemitischen Karikaturen und Argumentationen werden die Deutschen als in die Defensive geraten dargestellt: klein, zu gutmütig, vorerst unterlegen. Dieses Motiv war keineswegs neu, sondern üblich. 1848 hieß es in einem im niederösterreichischen Stockerau gedruckten Plakat bereits: "'Deutscher Michel!'" Schieb Deine Schlafmütze zurück, und reib Dir mit beiden Händen die Augen, schau um Dich herum wie Du willst, und Du siehst überall Juden! ...lauter falsche und echte Juden, welche Dich, 'guter deutscher Michel'" regieren wollen!"

2) Die Identifizierung und Stigmatisierung als "Fremde": Nicht nur der Grenzstein soll das Eindringen der Juden als Fremde darstellen, sondern auch das Äußere. Die Tschechen hatten in der österreichisch-deutschnationalen Karikaturen-Ikonographie die Rolle der "blöden Arbeitstiere", die wegen ihrer Stärke (und Fruchtbarkeit) gefährlich seien. Die unterstellte Dummheit sollte ihnen wohl das Recht auf Autonomie absprechen. Für die Juden verwendete der Karikaturist mehrere gängige, fremd-stigmatisierende Kennzeichen: die Nase, die schwarzen, dichten Kräuselhaare, Augenbrauen, die Kleidung. Eine Bemerkung am Rande zur Darstellung der Nase: Während der Wiener Dialekt sich über die Nase der Tschechen lustig machte, indem er das tschechische "frnak" als "Pfrnak" zum Symbol für große Nasen auserkor, war in der gehässigen Bildsprache der antisemitischen Karikatur die große Nase bereits für die Juden besetzt.

3) Die Unmöglichkeit der Assimilation: Hier soll ein um Assimilation bemühter Jude gezeigt werden, dessen Anpassung - davon gingen Rassisten aus - nicht gelingen kann, auch wenn er es selbst will. Die Koteletten deuten dies an, sie sind Relikte der Pejes, der Schläfenlocken, die nach jüdischem Gesetz nicht geschnitten werden dürfen, da kein Messer die Schläfen eines Mannes berühren darf. Der Charakter des dargestellten Juden ist für den antisemitischen Zeichner klar festgelegt: hinterhältiges, schlitzohriges Lächeln soll die den Juden unterstellte Falschheit zeigen. Die Hand in der Hosentasche weist darauf hin, daß Juden - in der Vorstellung der Antisemiten - Geld nicht durch körperliche Arbeit verdienen.

4) Die Lösung? Sie bleibt - wie sehr oft bei den moderaten Antisemiten - der Phantasie des Betrachters überlassen, denn ernsthafte Angebote für eine Integration der Juden entwickelten sie nicht. Die Karikatur deutet auf zwei Richtungen hin: eine Unterbindung des weiteren Zustroms über die Grenze und vor allem ein Appell an die "deutschen Micheln", selbst die Macht zu übernehmen. Letzteres lag ganz im Sinne des konservativen Antisemitismus eines Adolf Stöcker oder Karl Lueger, die ihn dazu benützten, für ihre Parteien Macht einzufordern. Im entscheidenden Wiener Wahlkampf des Jahres 1895 sprach Karl Lueger von der Herrschaft der Juden über die Nationalitäten in Ungarn, um die Wiener nichtjüdischen Wähler zu mobilisieren: "Bei uns darf es nicht so weit kommen und wenn die Christen Wiens bei den Gemeinderathswahlen ihre Pflicht thun, dann wird der Jude einen Deuter bekommen, den er sich merken wird. (Beifall)."

 

Zielten moderate Antisemiten vor allem auf Identifikation durch Fremdstigmatisierung, auf Ausgrenzung durch Isolation und den eigenen Machtanspruch hin ab, zeigt das zweite Bildbeispiel, wie brutal die Gedankengänge intentionaler Antisemiten schon Ende des 19. Jahrhunderts waren.

 

BILD 2 einfügen

Bildquelle: Archiv John C.G. Röhl.

Bildtext:

Der 1894 in Berlin erschienene antisemitische Bilderbogen stellt die deutsche Hauptstadt im Jahr 1950 dar. Es werden nur zwei Alternativen gesehen: der Sieg der Juden oder der Deutschen. Der Bilderbogen zeigt, wie sehr die Phantasie zu Vertreibung und Genozid bereits in den Köpfen radikaler Antisemiten Realität war. Auf Neidgefühle hin abzielend müssen die Juden ihre Güter in Säcken auf denen "gestohlenes Gut" und "unterschlagenes Gut" geschrieben steht, bei einer Kirche abliefern, wo es an Arme weiterverteilt wird. Auf einem "Juden-Galgen" werden Männer wegen folgender Delikte gehängt: "Giftmord, Meineid, Nothzucht, Wucher, Bankrott". Die geschmacklose, menschenverachtende Karikatur entlarvt deutlich die Spiegelfunktion der antisemitischen Argumentation: Was den Juden unterstellt wurde, strebte man direkt oder indirekt selbst an.

 

Tradition

 

Die Veränderung der Position im Machtgefüge sagt wenig über die Gründe für den bahnbrechenden Erfolg des modernen Antisemitismus aus, die auf mehreren Ebenen zu finden sind. Der Erfolg hatte mit der ökonomischen Krise, der zwischen 1873 bis Mitte der 90er Jahre andauernden "Großen Depression", zu tun und ebenso mit der politischen Krise und dem Niedergang des Liberalismus. Die xenophoben Appelle gegen die "Judenpresse" und die "judenliberale Herrschaft" fielen in dem vom Nationalitätenstreit zerrütteten Österreich und dem noch auf labiler Basis geeinten Deutschland auf den fruchtbaren Boden einer zutiefst verunsicherten Wählerschaft. Die Demokratisierung brachte einen neuen Typus von Politiker mit sich, der sich an die neuen Wählerschichten richten mußte. Der protestantische Berliner Hofprediger Adolf Stöcker merkte ebenso wie der spätere Wiener Bürgermeister Karl Lueger, daß antisemitische Attacken eine weitaus größere Publikumswirksamkeit auslösten als Polemiken anderer Art. Sie konnten auf die antijüdischen Vorurteile und das Bedürfnis nach personifizierten Feindbildern ihrer Klientel bauen.

 

Der Erfolg basierte aber auch auf der tief verwurzelten Ablehnung von Juden bei großen Teilen der Gesellschaft. Wer dies verstehen möchte, wird auf den christlich-jüdischen Konflikt und die Tradition der Diskriminierung stoßen. Zum Beispiel hatten die Stände in der österreichischen Steiermark und Kärnten seit der Vertreibung der Juden 1496 das "Privileg" "de non tolerandis Judaeis", ebenso waren Juden in Salzburg vom Mittelalter bis zur Gleichberechtigung 1867 verbannt. In Wien durften sich bis 1848 nur tolerierte Juden aufhalten, andere wurden mit einer Leibmaut und beschränkten Aufenthaltsbewilligungen gegängelt. Im Bewußtsein der Bevölkerung blieb die Erinnerung daran lebendig, und antisemitische Agitatoren fanden immer eine Zuhörerschaft, wenn sie den Juden vorwarfen, sie würden die neu gewährten Rechte über Gebühr für eigene Zwecke ausnützen.

 

Die wirtschaftliche Distanz

 

Die Diskriminierung bis zur Emanzipation hielt die Juden nicht nur in religiöser Hinsicht auf Distanz von den Nichtjuden. Die Beschränkung der für Juden zugelassenen Berufe sicherte nämlich zusätzlich eine ganz reale soziale Distanz. Auch dieser Typus von Distanz mußte sich mit der Emanzipation und der sozialen Mobilität allmählich auflösen. Einige Berufsgruppen wie die Handwerker standen in einem traditionellen Konkurrenzverhältnis zu jüdischen Händlern. Antisemitische Handwerker konservierten die aus alten Konfliktsituationen stammenden Argumente bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Handwerker, die jahrhundertelang in den für Juden versperrten Zünften organisiert waren, hatten im 19. Jahrhundert große Schwierigkeiten, die Struktur der neuen, marktorientierten Ökonomie zu akzeptieren. Ihr Antisemitismus war ein verdeckter Antikapitalismus, der sich den Gesetzes des Marktes versperrte und sich nach einer Wiedereinführung ständischer Prinzipien sehnte. Ihre Argumente gegen die Juden waren alt und thematisch eng begrenzt: Die Juden würden schlechte Qualität, also Schundware, produzieren und ruinierten als Unausgebildetete, Händler und Massenproduzenten die nichtjüdischen Handwerker durch Schwindelgeschäfte etc. Direkten Kundenkontakt, serielle Produktion, Reklame und Ausverkauf empfanden sie lange noch als unmoralische Wirtschaftshaltung. Der antiliberale, konservative Flügel der Handwerker griff Ende des 19. Jahrhunderts genau auf jene Vorwürfe zurück, die die Zünfte gegen die Konkurrenz jüdischer Händler verwendet hatten.

 

Eine Untersuchung antisemitischer Trägerschichten am Beispiel von Berliner antisemitischen Vereinen konnte zeigen, daß am Beginn der antisemitischen Bewegung - zwischen 1879 und 1895 - jene Berufsgruppen, vor allem Handwerker, eher zu den konservativen, moderaten antisemitischen Vereinen neigten, die in einem tradtionellen Spannungsverhältnis mit jüdischen (Handels-)Konkurrenten standen. Sie konnten ihre soziale Distanz zu jüdischen Konkurrenten trotz der Gewerbefreiheit und der Durchsetzung neuer Produktionsformen auf die zuvor genannten Argumente gründen. Hingegen sprachen die deklariert rassistisch argumentierenden Organisationen Berufsgruppen an, die sich mit Juden auf derselben Berufsebene befanden - vor allem Kaufleute, Handelsangestellte und Studenten. Für sie reichte die früher wirksame Distanzkategorie der anderen Wirtschaftshaltung nicht mehr aus, um sich von Juden abzugrenzen.

 

Mit den eng gefaßten, Juden ausschließenden Begriffen "Volk", "Nation" und "Rasse" gewannen neue Kriterien zur Bewahrung der Distanz an Gewicht. Dies war - aus der Sicht der Antisemiten - um so notwendiger, als sich langfristig die Unterschiede der Berufsstruktur zwischen Juden und Nichtjuden bis zur Belanglosigkeit hin zu verwischen drohten. Um so heftiger betonten sie die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden, die sich auf Grund der unterschiedlichen beruflichen Ausgangslage ergaben. Wollte die Aufklärung die Juden noch im Handwerk- und Landwirtschaftsberufen sehen, wies die Möglichkeit der sozialen Mobilität für die aus Handelsfamilien stammenden Juden in eine völlig andere Richtung: freie Berufe, Bildungs- und Angestelltenberufe und Produktion.

 

Der Ende des 18. Jahrhunderts von Aufklärern und Judenfeinden gemeinsam vertretene, ökonomisch argumentierende Gemeinschädlichkeitsverdacht konnte auf Grund der Fortdauer der unterschiedlichen Berufsstruktur von Juden und Nichtjuden als scheinbar rationale Begründung für die Judenfeindschaft aufrechterhalten werden. Er konnte weiterbestehen, da sich die von der Aufklärern und Befürwortern der Emanzipation erwartete Angleichung der Berufsstruktur nur langsam vollzog.

 

Antisemitische Autoren schrieben die nach einer Erklärung schreienden Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung generell den Juden zu. So verstieg sich der deutsche Nationalökonom Werner Sombart in seinem 1911 erschienenen, große Diskussionen auslösenden Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" zu der abenteuerlichen These, die Juden seien die "Begründer des modernen Kapitalismus." Überlegungen wie diese gehörten zu einem Gedankenkomplex, der sich aus Antikapitalismus und Antiliberalismus zusammensetzte.

 

Wie tief verankert die auf der Wirtschaftstätigkeit der Juden abzielenden antisemitischen Bilder waren, zeigt sich an den antisemitischen Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie. Sie scheute nicht davor zurück, in Karikaturen und Schriften über "Judengeld" und "Bankjuden" zu polemisieren. Hatte doch schon Karl Marx 1843 geschrieben, das empirische Wesen des "Judentums" sei der Schacher. Marx, dessen Vater Heinrich konvertierte, stammte aus einer alten Rabbinerfamilie. Sein negatives Bild von Juden beruhte vermutlich auf einer Mischung aus humanistischer, also christlicher Erziehung, seiner persönlichen Betroffenheit und dem Versuch, sich von den über Juden bestehenden Bildern abzugrenzen.

 

Wirtschatliche Themen waren für Antisemiten zwar nicht das Hauptkriterium für die Identifikation der Juden als soziale Gruppe, aber wegen der lange tradierten Vorstellungen fügten sie sich ideal in die von ihnen entworfene Charakterologie der angefeindeten Gruppe ein. Die alten Vorwürfe und Klischees, wie jene des Wuchers und Schachers, fanden in der antisemitischen Literatur breiten Raum. Sie übertrugen sie direkt auf die neue Sitiuation und führten beispielsweise den hohen Anteil jüdischer Studenten auf die Abneigung der Juden für körperliche Arbeit zurück.

 

Die religiöse Distanz

 

Der christliche Antijudaismus belastete das Verhältnis von Juden und Nichtjuden massiv. Der normenprägende, antijüdische Einfluß der katholischen und protestantischen Kirche behinderte die Annäherung von Juden und Nichtjuden und förderte die von Antisemiten angestrebte soziale Isolation entscheidend. Mehr noch: Die aktive Teilnahme von Priestern in der antisemitischen Bewegung half die antihumanistische Denkweise zu verbreiten. In Österreich zählten die beiden Priester und Herausgeber der während der Revolution 1848 gegründeten Wiener Kichenzeitung, Sebastian Brunner und Albert Wiesinger, zu den Vorreitern der antisemitischen Bewegung, in Berlin initiierte 1879 der in der bedeutenden Funktion eines Hofpredigers agierende Adolf Stöcker die antisemitische Berliner Bewegung.

 

Alleine über den Religionsunterricht hatten die vom Antisemitismus beeinflußten Priester einen fortdauernden, normativ wirkenden Einfluß auf mehrere Schülergenerationen. Viele jüdische Autoren schildern in ihren Erinnerungen die von christlichen Religionslehrern ausgelösten Spannungen mit ihren Mitschülern. "Die Juden haben unseren Herrgott ans Kreuz geschlagen", war eine Botschaft, mit der Priester eine tiefe Kluft zwischen jüdische und nichtjüdische Schülern rissen.

 

Ende des 19. Jahrhunderts erlebten die Ritualmordvorwürfe gegen Juden in Europa eine ungeahnte Renaissance, und sie verfestigten sich abermals im Volksaberglauben jener Zeit. Der spätere tschechoslowakische Präsident, Tomás G. Masaryk, fürchtete sich als Kind vor den Juden, weil er dachte, sie würden Christenblut benötigen. "Bertha, wir sind doch so gute Freundinnen, sage mir ganz aufrichtig und im Vertrauen: Brauchen die Juden zu Passach Christenblut?" Die Frage der nichtjüdischen Gattin eines Prager Großindustriellen an ihre jüdische Freundin war symptomatisch für die abergläubischen, furchterregenden Phantasien des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

 

"Sie werden wohl nicht der Ansicht sein, daß ich in dieser Sache irgend eine Überzeugung vertrete", ist einer jener charakteristischen Sätze eines Antisemiten zur Jahrhundertwende. Der deutschnationale Abgeordnete zum österreichischen Reichsrat, Karl Türk, verwendete ihn 1890 als erster Redner bei der Debatte über die "Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgenossenschaft" und spielte damit auf die Frage der Ritualmorde an. Obwohl sich Türk im Nachsatz für völlig "incompetent" erklärte, tischte er die bizarre Geschichte eines Dienstmädchens auf, dessen jüdischer Dienstgeber ihr während des Schlafes mit einem Schropfkopf Blut abgezapft haben soll. Religiöse Motive interessierten diesen deutschnationalen Antisemiten nicht im geringsten. Er griff auf das alte Vorurteil zurück, um Juden als Blutsauger und Mörder zu diffamieren und mit aktuellen Mordfällen kollektiv zu verdächtigen. Er und andere spielten bei den Angriffen auf die jüdische Religion mit Beliebigkeit, Gerüchten, Vermutungen, entstellenden Übersetzungen hebräischer Schriften, Behauptungen und Skandalen, um in den Medien und bei den Wählern Aufsehen zu erregen. An einer direkten Auseinandersetzung mit dem Objekt der Angriffe, den Juden und ihrer Religion, waren sie nicht interessiert, sondern lediglich an der Denunziation der Juden im ganzen. Mit Vorliebe bezogen sich die Antisemiten auf die christliche antijüdische Tradition, mit Vorliebe wiederholten sie, aus dem historischen Zusammenhang isolierte antijüdische Äußerungen von Priestern, früheren Päpsten oder des Religionbegründers Martin Luther, um ihrem Haß einen scheinbar legitimen Hintergrund zu verleihen - jenen der Tradition. Das nationalsozialistische, rein antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer" benutzte das Motiv des Ritualmordes genüßlich, um mit dem Thema subtil einen Schulterschluß mit religiösen Kreisen anzudeuten.

 

Bild 3 einfügen:

Bildquelle: Der Stürmer, Sondernummer 1, Mai 1934.

 

Abgesehen von den Themen hatte diese Art des Antisemitismus mit dem religiös-christlich fundierten Antijudaismus wenig gemeinsam. Es handelte sich um eine extreme Ausformung des "post-christlichen Antijudaismus", dem nicht mehr daran lag, sich mit der realen Beziehung der Nichtjuden und Juden auseinanderzusetzen, sondern darum, sich der realen gegenseitigen Annäherung beider Gruppen durch die Bildung eines übermächigen chimärischen Feindbildes zu widersetzen.

 

Koexistenz?

 

Damit drängt sich abschließend nochmals Frage auf, die im "Therapie" genannten Untersuchungsbereich angesprochen wurde: Welche Existenzberechtigung hatten Juden in einer von Antisemiten politisch beherrschten Gesellschaft?

 

Die traditionelle theologische Judenfeindschaft sah die Existenz der Juden auch im Beweis für die Wahrheit des Christentums gerechtfertigt. Die Juden seien zur Rechtlosigkeit verurteilt und ein wanderndes Volk unter den Völkern, weil sie die Wahrheit des Christentums nicht anerkennen wollen. Die Diskriminierungen begründete die theologische Judenfeindschaft mit der Hoffnung, den Juden damit den Weg zur Wahrheit des Christentums zu ebnen. Diese Art des judenfeindlichen Denkens wurde im 18. und 19. Jahrhundert von anderen analytischen Werkzeuge abgelöst: der Geschichte, der Anthropologie, der Ethnologie (im Sinne einer historisch-charakterologischen Beschreibung) und schließlich der bereits Ende des 19. Jahrhunderts etablierten Rassenforschung.

 

An einer Integration der Juden war die antiemanzipatorische Judenfeindschaft und der moderne Antisemitismus nicht interessiert, sondern an der Ausgrenzung und Diskriminierung von Juden. Über die Bedingungen für die weitere Existenz der Juden gaben Antisemiten bestenfalls konfuse und wenig kalkulierbare Stellungnahmen ab. Die reformistisch orientierten, eher dem konservativen Spektrum zuordenbaren Antisemiten wagten nicht, an den Rechten der Juden zu rütteln. Dies zeigte das Beispiel des damals überaus populären antisemitischen Demagogen Karl Lueger, dessen Denkmal und Name heute noch die Wiener Ringstraße verunziert. Als 1895 mit ihm die als Antisemiten angetretenen Christlichsozialen Wien zur ersten antisemitisch regierten europäischen Metropole machten, verzichteten sie auf schwerwiegende antijüdische Maßnahmen. Daß Wiener Gemeindeaufträge nicht mehr an jüdische Unternehmer vergeben werden sollten, beschränkte deren Tätigkeit nur unbedeutend. Selbst antisemitische Minister und Regierungen verzichteten später auf gesetzlich diskriminierende Schritte. Bis zum Nationalsozialismus sah es beinahe so aus, als würden Antisemiten - so wie früher die Christen - die Juden benötigen, um ihre Existenzberechtigung im politischen Leben zu begründen.

 

Die Kluft zwischen den hemmungslosen Verbalinjurien und der Passivität antisemitischer Politiker mußte überzeugte Antisemiten provozieren, denn sie hielt die Forderung nach tatsächlichen Maßnahmen wach. Es bedurfte noch vieler Schritte, bis die Gefahr des intentionalen Antisemitismus tatsächlich lebensbedrohend wurde. Nur wenige, wie 1893 die Pazifistin Bertha von Suttner, erkannten jedoch, was "das Endziel der antisemitischen Agitation" war: "die Vernichtung aller Juden".