Endre Kiss
Die unentdeckte Welt der Seele der Masse (n)
Hermann Brochs unentdeckte Massenpsychologie
1993-2014
2021.05.08.
Motto:
Es ist alles andere als verwunderlich, dass in unserer „Krisenzeit” (zumindest redet man seit 2007-2008 wieder über Krise, verstehe man darunter, was man genau will) auch das Interesse aufkommt, aus so reichen Konzepten wie eben Hermann Brochs Massenwahntheorie gewisse Erklaerungsmuster auch für unsere Gegenwart anzuwenden. Diese so selbstverstaendlich Frage hat eine Schwierigkeit, die es manchmal selbst denen nicht klar wird, die diese Frage stellen. Die heutige Fragestellung ist von aktuellen Momenten diktiert und will schnelle und brauchbare Antworten bekommen. Aus so komplexen und vielschichtigen Materialien wie es eben diese Massenpsychologie ist, ist es eben unmöglich, solche kurz reagierende Antworten zu generieren, so geschieht es oft, dass man bei aller Schaetzung Brochs diese Intention wieder schnell aufgibt. Das Phaenomen des Spieles würde vielleicht eine Ausnahme in diesem Trend aufzeigen.
Durch die Einführung des Daemmerzustandes als eines Zwischenbereiches zwischen Bewusstem und Unbewusstem, legitimiert der Romancier Hermann Broch den durchgehenden Gebrauch des "inneren Monologs", der etwa von dem Georg Lukács der stalinistischen Periode ideologisch als mit dem grössten Gewicht der omnipotenten zentralen Stimme als "antirealistisch" attackiert worden ist.
Durch die Ausarbeitung des Mediums des Daemmerzustandes untermauert Hermann Broch den inneren Monolog sozusagen ontologisch, denn dieser wurde auch unter epistemologischem Aspekt in Zweifel gezogen, indem gesagt worden ist, dass wir nur in sprachlicher Form denken können (Wyndham Lewis) oder dass der innere Monolog erst im Bewusstsein des Lesers "bedeutungsvoll" wird (E. R. Curtius).
Der Daemmerzustand ist also nicht nur eine psychologische Realitaet als neues Medium des Weltzustandes der neuen Einsamkeit, sondern sie revolutioniert auch die Rolle des Erzaehlers im Roman. Brochs zeitüberdauerndes Verdienst ist es, dass er eine aesthetische Realisation dieses neuen Weltzustandes gefunden hat und dadurch eine Literatur schuf, welche - wie Canetti es dann auch weiter darlegte- auf den menschlichen Atem aufgebaut werden konnte. Der Dichter ist auch in dieser Konzeption "allwissend", er ist es aber in einem vollkommen neuen Sinne. Er weiss nicht mehr von der Welt alles, anstatt dessen weiss er aber von der Realitaet des Daemmerzustandes alles. Denn Daemmerzustand faellt gerade dadurch auf, dass er die Welt nicht mehr oder nur auf seine eigene Weise versteht.
Im Kontext des gesamten Lebenswerkes von Hermann Broch waere es auch notwendig, sein Verhaeltnis zur Psychoanalyse eingehend zu thematisieren. Der gemeinsame kultur- und sozialgeschichtliche Hintergrund zwischen Freud und Broch, die ganze unendlich variationsreiche Geschichte der persönlichen und geistigen Verbindungen, ferner die gewaltige Anzahl von Parallelen zwischen Konzepten der einzelnen dichterischen Lebenswerke und der Psychoanalyse machen ein Ausmass von Fragestellungen aus, das noch lange nicht ganz ausreichend beantwortet werden kann.
BROCHS FREUD-REZEPTION
Freuds oft sehr kritische Stellungnahmen über Wien dürften nie ganz in buchstaeblichem Sinne genommen werden. [1] Die Wiener Gleichgültigkeit gegenüber der Psychoanalyse erschöpft einerseits nicht in jeder Zeit das wahre und keineswegs eindimensionale Verhalten der "Gesellschaft", andererseits scheint uns so eine anfaengliche und fast provokatorisch Gleichgültigkeit geradezu als die sozial normale Verhaltensweise gewesen zu sein. Im deutlichen Gegensatz zur Einschaetzung Freuds erblicken wir gerade die Grösse der damaligen Wiener Gesellschaft darin, dass sie sich der Sache der Psychoanalyse trotzdem annahm und sie gleich als konkrete Herausforderung an sich selbst, d.h. an die eigene Lebensform uminterpretierte. Wir gehen vielleicht nicht fehl, wenn wir in dieser Rückbeziehung des Gedankengutes der Psychoanalyse auf die eigene Lebensform oder auf das eigene Glück eine wahre (und wie es schien, auch historisch dauerhafte) zivilisatorische Leistung erblicken.
Das von Freud so kritisch angesehene Wien verstand es, auch aus der Psychoanalyse eine "Mission", einen vitalen und intensiven Konflikt zu machen, der auch die Sache der Psychoanalyse zu einer entscheidenden gesellschaftlichen Angelegenheit gemacht hatte. Auf die Herausforderung reagieren die Widersacher, aber auch die Verteidiger der Sache ziehen ins Feld. Dadurch ist bereits schon ein alle angehender tiefer sozialer Kampf ausgebrochen, welcher gleich polarisiert und die Gesellschaft in zwei einander gegenüberstehende Lager spaltet. Die Welt zerfaellt im Nu in "Ja-" und in "Neinsagende".[2]
Es erstand aber auf diesem Wiener Boden auch ein anderes Phaenomen. Es gab naemlich hier einen grösseren Kreis (in Gestalt von mehreren Einzelnen), der die Psychoanalyse von Anfang an als eine rivale Theorie erblickt hatte.
Und darin liegt der wirkliche Schlüssel der spezifischen Wiener Rezeption der Psychoanalyse. Überall auf der Welt erschien Freuds Lehre als ein geordneter und mehrfach systematisierter Diskurs vom Menschen, der zum Teil zur neuen Beschreibung menschlicher Befindlichkeiten, zum grösseren Teil aber zu ihrer therapisch orientierten Korrektion dient. In Wien erschien es aber vor allem als eine „Theorie”, als ein ganzheitlich strukturierter theoretischer Ansatz, der nicht so sehr überzeugte als auf rivale Reflexion, konkurrierende Kritik und analytisches Weiterdenken aufforderte.
Genügend bekannt wurden die Konflikte schon zwischen Sigmund Freud und Otto Weininger, und zwar, und es konnte auch nicht anders sein, um die Prioritaet in der Gestaltung der Psychoanalyse[3]. Es entsteht sehr schnell ein gewaltiges intellektuelles Umfeld um die Psychoanalyse, wo Abgrenzungen wie die des Austromarxismus[4] sowie eine stattliche Anzahl von rivalen Vorstellungen auftreten. In dieses Feld gehören schon Freuds Aeusserungen über Popper-Lynkeus oder über Schnitzler, in denen er diese als geistig verwandte Analytiker anerkennt, nicht ganz weit davon entfernt liegen aber auch Freuds Hinweise auf die ganz spezifische Beziehung, die ihn mit Schopenhauer und noch mehr mit Nietzsche verbunden hatten.
Hermann Broch setzte sich mit Sigmund Freud in jeder Etappe seiner Laufbahn zutiefst auseinander. Trotz seiner allseitigen kritischen Einstellung und einmaligen geistigen Ansprüche akzeptierte er die Wahrheit der Psychoanalyse nicht nur theoretisch. Er arbeitete seine eigenen psychologischen Probleme ebenfalls vorwiegend mit Hilfe der Psychoanalyse auf, er konnte die Schlafwandler-Trilogie etwa auch dann wirklich erst schreiben, nachdem er sich einer Analyse unterzog[5] und schickte auch seinen eigenen Sohn bei erzieherischen Problemen mit Vorliebe in die Analyse. Der in der massenpsychologischen Theoriebildung ebenfalls zutiefst interessierte Elias Canetti, fasst diesen Tatbestand so zusammen: "Er stand übrigens so sehr zu Freud, dass er auch gar nicht davor zurückscheute, dessen Termini in ihrer vollen, unangezweifelten (!) Bedeutung in einem ernsten und spontanen Gespraech zu verwenden. Angesichts seiner grossen philosophischen Belesenheit musste mir das Eindruck machen, so unangenehm ich es empfand, denn es bedeutete, dass er Freud selbst Kant, den er sehr verehrte, Spinoza und Plato gleichstellte. Was im damaligen Wiener Sprachgebrauch zu alltaeglichster Banalitaet geraten war, sprach er neben Worten aus, die durch die Verehrung von Jahrtausenden, auch durch seine eigene, geheiligt waren."[6]
Anfangs erschien Sigmund Freud als eine staendige Grösse in einer breiten Masse von geistigen Impulsen, aus denen der junge Broch schon früh, etwa in der Periode seiner Polemik gegen Carl Dallago, einen authentischen philosophischen Diskurs geschaffen hatte. In diesem ganzen Komplex ist Freud der eine neben Schopenhauer, Weininger, Nietzsche oder Kant. Als der junge Broch die Kunst als "Sexualitaet der Kultur"[7] nennt, verpflanzt er die Idee der Sublimation bei Freud in seinen eigenen, selbstaendigen kritischen kulturphilosophischen Gedankenkreis.
Es beleuchtet die gedankliche Werkstatt Hermann Brochs von einer nicht immer ausreichend gewürdigten Richtung aus, dass einer der haeufigsten Anlaesse der Heraufbeschwörung von Freud bei ihm nicht die konkrete Disziplin der Psychoanalyse, sondern die Methodik, bzw. die Wissenschaftslogik ist! Hier erscheint Freud nicht selten in der Nachbarschaft von Marx, nicht weniger wertvoll sind aber auch diejenigen Feststellungen, die die Psychoanalyse von der Perspektive der philosophischen Werttheorie beurteilen. Die authentischen modell-bildenden Elemente der Psychoanalyse werden stets heraufbeschwört, was auch andeuten kann, wie methodisch perfekt auch Brochs bedingungslose Anhaenglichkeit an Freud wirklich war.
Hermann Broch verhaelt sich jedoch nicht nur in der Ableitung seiner Massenpsychologie sehr engagiert zu Freud, er ist auch faehig, die Sprache der Psychoanalyse selber einwandfrei auch frei zu reden. In einem Briefe charakterisiert er beispielsweise Hitler auf die folgende Weise: "Denn im Begriff der 'Reinheit' ist dieses ganze Gehaben zu fassen: es ist das Gehaben - freudisch gesehen – eines homosexuellen Onanisten mit nekrophilen Perversionen (homosexuelle Leichenschaendung), doch über die neurotischen Züge sind die psychotischen gestülpt. Verfolgungs- und Grössenwahn übereinandergelagert, daneben die genialischen Einsichten eines Wahnsinnigen, und dies alles muss notwendig zum Nichts-Willen, also zum echten Ver-Nichtungswillen werden, weil es eben psychotisch entfesselt ist."[8]
Die wohl wichtigste literarische Konsequenz aus Brochs Freud-Rezeption ist die Problematik des Daemmerzustandes. Wie es bei dem Individuum eine vorherrschende Attitüde war, dass man "schlafwandelt", so erscheint die Thematisierung und die theoretische Rekonstruktion des Daemmerzustandes als eine kohaerente und ganzheitliche Weiterentwicklung der Freudschen Massenpsychologie. Dass dieser Zustand die psychologische Entsprechung der existentialen Grundsituation der neuen Einsamkeit und des Rückverwiesenseins des Menschen auf die Einsamkeit ist (die Broch anderswo feststellt), liegt auf der Hand.
Der Daemmerzustand ist ebenso universal wie die neue Einsamkeit, kann ebenso wenig rein existentiell oder rein absurd aufgefasst werden wie es bei der neuen Einsamkeit der Fall gewesen sein sollte.[9]
Das Neue in diesen Grundkategorien ist, dass sie sich zwar mit dem Unbewussten grenzen, sie sind aber mit ihm nicht identisch. So erscheint ein markantes Zwischenbereich zwischen dem Unbewussten und dem Bewusst-Rationalen.[10]
Durch die Einführung des "Daemmerzustandes" als eines Zwischenbereiches zwischen Bewusstem und Unbewusstem, legitimiert der Romancier Broch den durchgehenden Gebrauch des "inneren Monologs", der, wie schon kurz angedeutet, unter anderen von Georg Lukács in seiner stalinistischen Periode ideologisch als "antirealistisch" attackiert worden ist.[11] Hier untermauert Broch den inneren Monolog sozusagen ontologisch. Die von James Joyce praktizierte modern-klassische Form des inneren Monologs wurde ferner auch dadurch attackiert, dass er "künstlich" ist und die Wirklichkeit des Bewusstseinsstromes nicht wiederzugeben weiss (Auguste Bailly).[12] Man wird in dieser Fragestellung nicht darauf aufmerksam, dass die Frage nach der „Wirklichkeit” so eines Phaenomens wie der innere Monolog in dem Sinne trivial sinnlos ist, weil gerade ein Bewusstseinstrom nicht unabhaengig von einer konkreten schriftstellerischen Darstellung vorstellbar sein dürfte.
Der "Daemmerzustand" ist also nicht nur die psychologische Realitaet eines Weltzustandes der neuen Einsamkeit, sondern er revolutioniert auch die wie immer auch aufgefasste Rolle des Erzaehlers im Roman, bzw. in der Epik. Brochs zeitüberdauerndes Verdienst ist es, dass er eine aesthetische Realisation dieses neuen Weltzustandes gefunden hat und dadurch eine Literatur schuf, welche wirklich - gerade wie Canetti es darlegte- auf den menschlichen Atem aufgebaut werden konnte.[13] Der Dichter ist auch in dieser Konzeption "allwissend", er ist es aber in einem vollkommen neuen Sinne. Er weiss nichts mehr von der Welt, er weiss aber von der Realitaet des Daemmerzustandes alles,[14] indem er den Daemmerzustand im Roman wieder zur Realitaet verhilft.
Freud ist und bleibt aber für Broch nicht nur ein Autor, der für ihn eine Ontologie des Daemmerzustandes erschliesst, er bleibt stets auch eine einmalige wissenschaftslogische Herausforderung. Brochs eigener philosophischer Diskurs vereint die Elemente von zahlreichen anderen Schulen[15]. Unter diesem Aspekt kehrt er immer wieder zur These zurück, dass Freud stets einem "bipolaren" Denken verhaftet bleibt[16]. Haette Freud jedoch die jeweiligen konkreten Inhalte seiner bipolaren Konstruktion auf ein gemeinsames Prinzip zurückführen wollen, so würde er auch methodologisch auf eine mit ihm (Broch – E.K.) gemeinsame Basis gestellt haben[17].
BROCH UND CANETTI
Die von Freud ausgehende konkrete massenpsychologische Forschung und Reflexion erfolgt bei Broch unter völlig anderen Voraussetzungen, wie es etwa bei seinem Freund und Rivalen Elias Canetti der Fall gewesen ist. Waehrend die Auffassung der Masse bei Canetti sozusagen ein work in progress ist, sie entsteht mit Hilfe einer merkwürdigen "wilden" phaenomenologischen Methode der Masse und Macht, ist sie bei Broch eine geradlinige Ausdehnung, man könnte sogar sagen, eine organische Fortsetzung seiner Analyse der neuen Einsamkeit oder des Rückverwiesenseins auf die Einsamkeit.
Unter diesen Voraussetzungen ist es naemlich kein kritisches Problem mehr, den "Einzelnen" und die "Masse", die "Individual-" und die "Massenpsychologie" miteinander in Relation, geschweige denn in Einklang zu bringen. Die Relation zwischen dem Einzelnen und der Masse, bzw. die Psychologie des Einzelnen und die der Masse soll hier nicht im luftleeren Raum der wissenschaftheoretischen Verallgemeinerung bestimmt werden, diese Relation wird dominiert durch die Ergebnisse der positiven philosophischen Analyse der neuen und konkreten condition humaine grundsaetzlich bestimmt.
Waehrend Canettis zwingende und suggestive Logik uns am Ende die Frage stellen laesst, ob nicht auch wir Teile der Masse sind, ob nicht das Deviante (Masse) in Wirklichkeit das Normale ist, erfolgt die Konstitution des Begriffs der Massen aus dem Brochschen historisch konkretisierten Menschenbild ohne Schwierigkeiten. Waehrend es für Canetti notwendig wird, für die Konstitution der Masse die gesamte menschliche, sogar persönliche Mikrowelt neu zu definieren, um den Leser Schritt für Schritt in diesen neudefinierten Mikrokosmos einzuführen, erweist sich für Broch Masse und Massenbildung nicht nur als psychologisch normal und jederzeit möglich, sondern auch historisch gleichbleibend, denn die moderne Geschichte erhaelt die staendige Möglichkeit von einer allgegenwaertigen Realitaet der Angst und der Panik.
Die Treue Brochs zu Freud erweist sich auch auf diesem Gebiet, allerdings nicht so, dass Broch Thesen aus Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse haette übernehmen wollen. Er verfaehrt anstatt dessen so, dass er Elemente des Freudschen Menschenbildes in seine Massenpsychologie einbaut. Die "Ich-Erweiterung" und die "Ich-Verengung" sind die beiden dynamischen Grundrichtungen, die bei Broch thematisch werden, wobei die Massenbildung und der "Massenwahn" eine Reaktion der historisch kontinuierlichen "Ich-Verengung" ist. Man könnte an dieser Stelle allerdings Brochs Analyse mit einem Element ergaenzen, damit sie nicht nur derjenigen Canettis einen Schritt naeher kommen, sondern auch noch bei Lösung moderner Konflikte eine ernstzunehmende Rolle spielen könnte.
Die Massenbildung, der Massenwahn ist eine Reaktion auf die "Ich-Verengung", welche eine realisierbare, mit Beute praemiierte "Ich-Erweiterung" in Aussicht stellt. Die Masse dürfte hier also eine Mischung von Ich-Verengung und Ich-Erweiterung, d.h. ein Versprechen erscheinen, Ich-Verengten die Möglichkeit einer aggressiven oder orgiastischen Ich-Erweiterung zu gewaehren.
Anders als Broch, verlangt Canetti bei seiner Transformation der Mikrorelationen um den Einzelnen nichts Geringeres von seinem Leser, als dass er beim Eintritt in den Diskurs wortwörtlich alles vergisst, was er über "Mensch", "Masse" und "Geschichte" im Bisherigen auch selbst noch von Freud erfahren hat. Er zwingt den Leser, einem von Grund auf neuen Ausbau von Geschichte und menschlicher Wirklichkeit teilhaftig zu werden.[18] Dieses Verfahren, auch als ungeheures Wagnis, scheint auf den ersten Augenblick nicht "einfach" monoman und dilettantisch zu sein, es laeuft sogar stellenweise auch Gefahr, in Laecherlichkeit zu verfallen, wenn es ihm nicht gelingt, diesen extremen Anfang im nachhinein durch intellektuelle Produktivitaet zu legitimieren[19].
Sein erstes Spezifikum in der Bearbeitung der Massenproblematik besteht gerade darin, dieses historischnagelneue Phaenomen verallgemeinert und dieses Phaeomen zur Grundlage einer Hermeneutik der Geschichte erhoben zu haben.[20]
Damit übernimmt er Brochs Verfahrensweise in zwei unterschiedlichen Bedeutungen, um am Ende doch zu einem von der Brochschen Konzeption unterschiedlichen Ende zu kommen. Einerseits übernimmt Canetti Brochs grundsaetzliches heuristisches Prinzip, im Phaenomen der Masse kein Ausnahmephaenomen erblickt zu haben. Andererseits definiert er Individuum wie Masse aufgrund der tiefsten Essenz seiner philosophischen Auffassung. Dies ist eine Art Sinngebung, die Intensitaet und Staerke dieser Sinngebung traegt aber auch dazu bei, dass - und dies haben wir bereits bei Broch feststellen können - die Psychologie des Individuums und diejenige der Masse nicht in einem luftleeren Raum und nicht nur methodisch aufeinanderbezogen werden.
Bei Broch ging es um eine Philosophie des Rückverwiesenseins auf die Einsamkeit, waehrend es sich bei Canetti um eine Philosophie der Macht und des Überlebens handelt. Zumindest ebenso relevant unterscheidet sich jedoch Canettis theoretische Massenpsychologie von derjenigen Hermann Brochs aber darin, dass sein Modell zwar in der Tiefenstruktur jeder Gesellschaft verankert, nichtsdestoweniger aber eine permanente und ewige ist. Der Wille zur Macht und zum Überleben kann sich zwar die verschiedensten Formen annehmen, sein Wesen bleibt stets dasselbe.
Bedeutend anders steht es bei Hermann Broch. Die Ich-Erweiterung, bzw. die Ich-Verengung sind in einem anderen Sinne dynamisch als die Entstehung und das Auseinanderfallen der Masse bei Canetti ist. Sie sind dynamisch, aber auch historisch, sie artikulieren die stets wechselnden Situationen. Durch ihr Variationsreichtum sind sie aber auch faehig, die menschlichen Möglichkeiten zu realisieren und auf ihre Weise dem Reichtum des Menschenbildes und des Daemmerzustandes bei Broch realisieren zu können.
Canetti selber sieht in der Entstehung und Artikulation der Masse demnach nicht eine Devianz, einen historischen Fehler der par excellence modernen Menschheitsgeschichte, die ja vor allem durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges deformiert worden ist. Statt dessen nimmt er die tatsaechlich neuen, in Entstehung begriffenen massenpsychologischen Phaenomene der zwanziger Jahre zum Anlass, die Menschheitsgeschichte nicht nur neu durchzudenken, sondern sie auch konstitutiv neu aufzubauen.[21]
Das Wagnis, alle bisherigen Kategorisierungen beiseitezulegen, führt dazu, dass er die "Elementarlehre" der Macht dem Leser durch einfache Beispiele beibringt. Das ganze Werk laesst sich somit auch als ein Lehr- und Lernprozess auffassen. Darüber hinaus geht aber auch ein anderer Lehr- und Lernprozess vor sich. Es wird dem Leser immer bewusster, dass Canettis Bestimmungen der Masse (sowie der einzelnen konkreten Spielarten derselben) auch in der Umwelt des einzelnen Lesers durchaus gültig sind, mehr noch, dass es keinen Leser der Masse und Macht geben kann, der in sich selber nicht gleich einige Züge der einzelnen Massen entdecken müsste. Die Transformation der Mikrologie der Umwelt schreitet voran, sie geht über die Lektüre hinaus und führt zu einer manifest werdenden Veraenderung unserer Wahrnehmung. Die Masse ist nicht ausser uns, die Masse ist auch in uns, die Masse ist nicht nur in der Geschichte, die Masse ist auch in der Gegenwart bestimmend. Die condition humaine der Massen erweist sich im Laufe der Canettischen Textgestaltung als Existenzbedingung der historischen Menschheit überhaupt.[22].
Die grundlegende Methodik von Canettis grossem Werk Masse und Macht ist phaenomenologisch. Es geht um eine Phaenomenologie der philosophischen Beschreibung, ohne dass dabei die philosophischen Begründungsprobleme des phaenomenologischen Philosophierens im wesentlichen thematisch geworden waeren. So entsteht oft eine philosophische, aber nicht nur philosophische Methode der phaenomenologischen Beschreibung, welche einerseits spaeter wissenschaftlich-positivistisch verifiziert werden muss, andererseits als neuer Diskurs in der Form von Beschreibung wichtiger neuer Phaenomene bleibt. Diese Anwendung bleibt dem ursprünglichen Geiste der Phaenomenologie durchaus treu, markiert aber den grundlegenden und pragmatisch bedingten Unterschied zwischen der philosophischen und der nicht-philosophischen Annaherungsweise. So gesehen, dürfte man mit Recht darüber sagen, dass diese phaenomenologische Methode immer in jenen Zeiten auftritt, als eine grosse Anzahl neuer Phaenomene in der sozialen und geistigen Wirklichkeit aufkommt. Nicht anders stehen wir heute mit der post-strukturalistischen Philosophie Frankreichs, die in genau einer solchen Situation auftrat und ihrerseits der phaenomenologischen Philosophie durchaus tief verpflichtet ist[23]. Zu dieser Beschreibung von bisher nicht kategorisierten Wirklichkeiten gehört ein bewusster und vorhin schon durchgeführter Wesensschau, es gehört dazu aber auch, was vorher als "Neudefinierung des Konkreten" bezeichnet worden ist, und zwar im Konkreten ein durchaus orthodox phaenomenologisches "In-Klammern-Setzen" der ontologischen und existentiellen Dimension des zu Beschreibenden.[24]
Die positiv-phaenomenologische Beschreibung der allgemeinsten Eigenschaften der Masse führt zu vier führenden Thesen, die auch in der spaeteren Auseinandersetzung in Geltung bleiben. Die erste These über den Willen der Masse, stets zu wachsen, führt die soziale Realitaet auf eine tiefere Ebene zurück, waehrend die Masse in dieser ersten, ausser ihrer sozialen Qualitaet phaenomenologisch bereits eine Qualitaet als Naturkraft annimmt.
Die zweite, ebenfalls sachphaenomenologisch gewonnene These über die in der Masse herrschende Gleichheit ist eine deutliche Thematisierung der Infragestellung der Individualisation als leitender und alleiniger Prozess der historischen Entwicklung. Die dritte These über die Liebe der Dichte in der Masse deutet die erotische, vielleicht auch archaische Komponente der Massenbildung an, waehrend die vierte These über die notwendige "Richtung" der Massen die Reflexion wieder in die sich jeweils anders manifestierende soziale und politische Realitaet zurückführt.[25]
Die bei Canetti rekonstruierten vier Thesen helfen uns aber auch, Hermann Brochs Massenpsychologie unter diesem Aspekt neu wahrzunehmen. Die in der ersten These formulierte Verhaltensweise der Masse weist gleich auf die vollkommen andere Verhaltensweise, aber auch die ebenfalls vollkommen unterschiedliche Begründung des Verhaltens der Massen bei Broch hin. Die zweite These Canettis macht klar, dass bei Broch das Problem der Individuation in der ursprünglichen Form überhaupt nicht aufkommt, denn die Problematik der neuen Einsamkeit diese Fragestellung nicht nur schon in sich enthaelt, sondern sie auch inhaltlich ausfüllt. Die dritte These Canettis mag zwar in ihrem beschriebenen Gehalt bei Broch auch aufkommen, vollkommen anders wird aber die Interpretation, die im Prinzip zweifellos möglichen orgiastischen Elemente, diese Momente erscheinen bei Broch als Umschlag aus einer grundlegenden Verzweiflung, wenn nicht eben Panik von den der Ich-Verengung unterworfenen Persönlichkeiten. Ebenfalls relevanten Unterschied deutet die vierte Canetti-These an: Bei Broch kann man in diesem Sinne von einer "Richtung" der Masse überhaupt nicht sprechen, allein schon weil der Wechsel von Ich-Verengungen und Ich-Erweiterungen tief mit den historischen Prozessen verbunden ist.
Die Summe dieser vier grundlegenden Eigenschaften fasst aber deutlich zusammen, was das Gespenstische dieses Gebildes bei Canetti ausmacht: Die Masse weist Eigenschaften auf, die dynamischer Natur sind und stets über sich hinausgehen. Wir haben nicht nur mit einem Gegenstand zu tun, welcher Gefahren für das jeweilige Normalbewusstsein bereitet, dieser Gegenstand ist auch nicht Herr seiner selbst. Seine Irrationalitaet ist eine durchaus immanente und vorprogrammierte.[26]
Vom neutralen "Phaenomen" einer phaenomenologisch-szientistischen Beschreibung wird die Masse zum Subjekt, zum merkwürdigen Lebewesen, welches sowohl in seinem Subjektcharakter, wie auch in seiner immanenten Dynamik über eigene Gesetze und Motivationen verfügt.
Waehrend Freud von dem in der Geschichte bereits realisierten Individuum zur Masse (und zum Masse-Menschen) kommt, erscheint bei Canetti eine der Individualisation vorangehende, gleichzeitig aber eine auch in dem historischen Zeitalter der Individualisation unversehrt weiterlebende, wenn nicht gerade es bestimmende Masse. In diesem Sinne erscheint es fast nicht mehr ganz korrekt, dieses Werk als "Massenpsychologie" zu bezeichnen. In diesem Wechsel der Perspektive laesst sich der geschichtsphilosophische Wechsel unschwer entdecken: Canetti konterkariert durch diesen neuen Ausgang auch den versteckten geschichtsphilosophischen Entwurf Sigmund Freuds, indem er das geschichtlich relevanteste Grundfaktum nicht mehr im Einzelnen, sondern von Anfang an (noch oder schon) in der Masse erblickt.
Der mögliche und manchmal notwendige Übergang vom eigentlichen Kern der Massenpsychologie ins Gebiet der Individualpsychologie geschieht nicht ohne vermittelnde Stufen. Das wichtigste diesbezügliche Verfahren, welches sich auch in weiteren Zusammenhaengen von nicht geringer Bedeutung erweisen wird, ist Canettis mehrschichtige Klassifizierung der einzelnen Massenarten. Die einzelnen Arten der Massen markieren nicht nur rein massenpsychologische Qualitaeten, sie führen ins gesellschaftlich Konkretisierte, mit anderen Worten, sie führen in eine genauer noch nicht definierbare Sozialtheorie hinüber.
Seine "Neudefinierung des Konkreten" erreicht auf diese Weise ihre Erfüllung: Wir erfahren nicht nur, dass alltaegliche soziale Ereignisse wie Theater, Konzert, Sport, Politik, Religion usw. massenpsychologische Grundsituationen darstellen, sondern auch, dass Begriffe wie "Panik", "Herde" etc. in seiner massenpsychologischer Beleuchtung einen völlig neuen Sinn haben müssen. Schritt für Schritt werden wir durch diese "Neudefinierung des Konkreten" in eine "neue Ordnung der Dinge" eingeführt,[27] wo auch Frauen und Maenner als zwei selbstaendige Massen erscheinen, die "Toten" als eine Version der "unsichtbaren Masse" auftreten und anstatt der einen konturlosen Masse als Grundexistenzform (der Masse) eben zwei, einander herausfordernde Massen figurieren können. Dass leblose Gegenstaende, die massenhaft vorkommen, auch noch in diese neue Ordnung der Dinge aufgenommen werden, macht nur die Universalitaet des neuen Diskurses perfekt.
"Masse" wird dementsprechend bei Canetti nicht verstanden und dargestellt als "Devianz" im Verhaeltnis zur Normalsphaere des Bürgerlichen, sie ist letztlich die einzige "normale" Konstitutionsform der Gattung der historischen Menschheit. Diese Massenpsychologie hat auch keinen kulturkritischen Zug. In ihr kann über einen offen oder verdeckt geschichtsphilosophisch gedachten "Untergang des Abendlandes" oder "Aufstand der Masse" keine Rede sein. Das Ziel der Masse kann alles andere als politisch oder quasi-politisch sein, es besteht im wesentlichen im vor-politischen "Überleben".[28]Diese Auffassung der Masse führt auch zur merkwürdigen Einstellung, dass auch die Moderne selber als Archaikum vorkommt.[29]
Die Masse existiert auch nicht als irgendeine "Regression" einer historisch bereits erreichten Höhe der Modernisation. Die Frage des "falschen" Bewusstseins kommt ebenfalls in keiner Form auf, die Massen vertreten auch kein Prinzip des geistig und intellektuellen Irrationalen im Gegensatz zu einer "rational-normalen" Welt. Sehr bedeutend scheint auch, wie Canetti im Zuge seiner Deformation der idealtypischen Massenpsychologie der zwanziger und der dreissiger Jahre auch die Funktion des Führers transformiert. Die erheblich grösste Anzahl der massenpsychologischen Theorien verwandelte sich früher oder spaeter zur Führer-Theorie. In Canettis Deformation des Führer-Bildes spielt der Führer nicht einmal unbedingt eine wesentliche Rolle bei der Konstitutierung einer Masse, seine Funktion besteht nicht in der "Verzauberung" der Masse für böse Zwecke, vielmehr in seinem anfangs geheimen radikalen Überlebenskampf gegen die eigene Masse.
Religionen werden vorerst nicht als autochthon massenpsychologische Produkte verstanden, sie werden vielmehr produziert, um die bereits manifesten massenpsychologischen Prozesse in gewisse Bahnen zu lenken. Somit fallen auch sinngemaess jegliche ideologischen Bestimmungen der Masse weg. Nicht unwichtig sind zuletzt auch diejenigen Modifizierungen in Canettis Massenpsychologie, die daher kommen, dass bei ihm eine Unterscheidung zwischen aktueller "Masse" und anderen Gruppierungen überhaupt nicht vorkommt, die anfangs immer geleugnete, dann aber doch sich artikulierende "Zweimenschentheorie" wird also radikal vermieden.[30]
Einen ganz spezifischen, man dürfte wohl sagen, einmaligen Stellenwert erhaelt Canettis Masse und Macht in ihrem Zusammenhang mit der grossen, theoretisch eingestellten modernen österreichischen Literatur, bzw. Wissenschaft. Es zeichnet sich naemlich auch auf dem Gebiet der Massenpsychologie ab, worüber Canetti in seiner Nobelpreis-Rede sprach: Auch im massenpsychologischen Zusammenhang ist seine Arbeit den grossen Österreichern in demselben Sinn verpflichtet, in dem sein Gesamtwerk eine zwar kritische, nichtsdestoweniger aber respektvolle Fortsetzung von Ergebnissen und Anregungen Freuds, Krausens, Brochs und Musils aufgefasst werden kann, aber auch muss.
Einen wichtigen Bezug zu Freud erwaehnten wir schon - ausser dem genannten Unterschied ist noch erwaehnen, dass die Masse, die bei Freud (die Armee und die Kirche), bei Canetti nur als der eine und bei weitem nicht der wichtigste Typ der Masse analysiert wird. Seine Massenpsychologie weist deutliche Unterschiede auch zu Hermann Brochs Massenwahntheorie auf, wobei wir die wesentlichste Differenz in Hermann Brochs bewusstem Ausgang von Freud erblicken würden, der zumindest in der Behandlung der Masse als historisch aktuelles, in den geschichtlichen Prozessen entstehendes und vorübergehendes Phaenomen eine gravierende Differenz zur Masse und Macht vertritt.[31] Canettis schon früh als umfassendes Lebenswerk geplante Massenpsychologie verdankt auch der Musilschen Analytik von ideologisch-wissenssoziologischen Inhalten viel, waehrend der Tenor des Werkes durch seine Konstituierung der Masse strikt gegen Musils grundsaetzlichen Individualismus richtet.[32] Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit stellt auch eine ins Geschichtsphilosophische hinüberreichende, mit gutem Gewissen rekonstruierbare Massenpsychologie dar, der Canettis Masse und Macht in den genannten Punkten auch durchaus entgegengesetzt ist[33].
Die gerade in sozialpsychologischer Sicht so fruchtbaren Jahre des ost-europaeischen Systemwechsels lassen sich durch Canettis Massenpsychologie durchaus sinnvoll hermeneutisch "lesen" und interpretieren.[34] Seine Leidenschaft fürs Konkrete bestaetigte sich in einer Welt glaenzend, in der die relative Plausibilitaet falscher Ideologisierungen zum Erlebnis wirklicher Massen geworden ist.
Es ist nur scheinbar überraschend, dass ein in so vielen Hinsichten ausserordentliches Werk, wie es die Masse und Macht ist, auf eine fundamentale Weise helfen kann, Hermann Brochs Massenwahntheorie optimal aufzunehmen. Erst im Vergleich zu diesem kongenialen Werk wird es naemlich sichtbar, wie hervorragend Broch die in jeder Massenpsychologie so kruziale Problematik der Relation zwischen Individuum und Masse sowohl wissenschaftstheoretisch wie auch realkausal lösen kann. In diesem Vergleich wird es, zweitens, auch ersichtlich, wie Broch ein ganzes neues Menschenbild schafft, welches sowohl sozialontologisch, wie auch psychologisch mit dem Daemmerzustand am adaequatesten zu charakterisieren ist und welches geradlinig die Literaturtheorie und die Romanaesthetik von Hermann Broch begründen kann. Drittens wird es in diesem Kontext unverkennbar, wie diese Massenpsychologie ohne Geschichtsphilosophie und Kulturkritik nicht auskommt. Und viertens gelingt es Hermann Broch, durch sein massenpsychologisches Modell die wissenssoziologische Kontinuitaet zur Problematik des richtigen und des falschen Bewusstseins aufrechtzuerhalten.
Ist unsere These realistisch, so heisst sie, dass sich Canetti’s Rekonstruktion der Masse im Rahmen einer strategischen, vielleicht sogar “subversiven” Darstellungsweise in eine historisch-soziale Hermeneutik verwandelt. Wird ferner diese Hemrneneutik umfassend genug, so ersteht die Frage wie von allein, ob es nicht auch das Politische mit einbegreift, womit eine “Naturalisierung” des Politischen in der Form einer Reduktion derselben auf das Massenpsychologische erzielt wird.
Um diese Frage zu stellen, bietet sich die durchaus glückliche Möglichkeit an, diejenigen Partien der Masse und Macht eingehend unter die Lupe nehmen, die in ihrem Gehalt in expliziter Weise politisch sind. Im grossen Werk werden vier Fallstudien dargeboten, die sich explizit mit politischen Phaenomenen auseinandersetzen, darüber hinaus bietet der Fall Schreber eine neue Gelegenheit, die anvisierte Frage konkret zu stellen. Kein Zweifel, die tatsaechliche Originalitaet und die Radikalitaet von Canetti’s Massenpsychologie vermittelt ein so umfassendes Bild des Menschen und der Gesellschaft, in welchem die Annahme einer Naturalisierung des Politischen durchaus nicht fehl am Platze zu sein scheint. Beim naeheren Zusehen ergibt sich jedoch, dass Canetti selbst schon in seinem grossen Opus durchaus differenzierte Interpretationen für politische Erscheinungen gibt.
Canetti waehlt in allen vier Faellen einen politischen Gegenstand, in dessen analytischer Beschreibung wie durch eine (wieder an die disziplinaer organisierte Phaenomenologie erinnernde) Wesensschau die bereits eruierten massenpsychologischen Einsichten vermitteln.
Der Weg geht also nicht von der Massenpsychologie in die Politik, sondern von der Politik in die nunmehr anders zu sehende Politik – auf dem Wege der neuen massenpsychologischen Einsichten.
Im Fall Versaille identifiziert Canetti einen plötzlichen und vollstaendigen kollektiven Identitaetswechsel, den dann die Politik, eine Partei, schliesslich die Nationalsozialistische Bewegung sich aneignet. Dieses Beispiel zeigt eindeutig, wie das neu aufgeschlossene massenpsychologische Einsicht in das Politische eingebaut wird, in diesem Fall besteht das Neue nicht einmal in dieser Synthese, vielmehr in dem neuen Inhalt des bereits vorgepraegten massenpsychologischen Gehaltes selber.
Der neue Inhalt der massenpsychologischen Einsicht erweist sich im Falle der Inflation als noch schlagender. Es ist so, weil in diesem “Hexensabbath der Entwertung” der Mensch als “Individuum” und der Mensch als “Masse” auf die gleiche Weise entwertet wird. Diese These wird in der Sprache und Einsicht der Massenpsychologie formuliert (etwa: “die Masse wird kleiner”), ihre Geltung reicht aber auch ins Sozialontologische und sogar in die Hegelsche
Anerkennungsproblematik. Dieser Schock führt zu vielfachen und komplexen Entfremdungsproblemen, die ja auch zum zeitweiligen Ende des sozialen Seins führen.
Der Weg vom Politischen ins Politische durch den Korpus einer neuen und originellen Massenpsychologie setzt sich auch in der Auseinandersetzung mit dem Parlamentarismus fort. Hierbei analysiert Canetti die Taetigkeit des Parlaments ganz im Geiste der Massenpsychologie als “psychologische Struktur der kaempfenden Heere”. Ganz in der Vorstellungswelt dieses Werkes nimmt aber Canetti das Spezifische des Parlamentarismus als “Tabu der Tötung” in diesem Kampf der kaempfenden Heere mit hinein, unter welche Bezeichnung er den politologischen Begriff “Immunitaet” des parlamentarischen Abgeordneten subsumiert.
In der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus kann Canetti die zahlreichen, vielfachen und kaum konkretisierten psychologischen Einwaende auf höhere Ebene erheben. Er gibt diesen vagen Vorstellungen einen konkreten (und eigenen) massenpsychologischen Gehalt. Waehrend er sich den Sozialismus in seiner Produktionsseite problemlos als “kollektivistisch” denken kann, ist dieselbe Annahme in der Verteilung kaum mehr denkbar, denn hier setzt die Geltung der eigens eruierten “Vermehrung” und “Vermehrungsmeute” ein.
Waehrend die von Canetti thematisierten vier Fallbeispiele in ihrer gedanklichen und inhaltlichen Struktur eine merkwürdige und bedeutungsvolle Kohaerenz aufweisen, zeigen sie gleichzeitig auch eine erstaunliche Vielfalt und Variabilitaet.
Der Fall Versaille zeigt einen einmaligen Akt der Auslöschung einer kollektiven Identitaet, waehrend der Fall Inflation eine potentiell jederzeit einsetzende Möglichkeit der schockartigen Entwertung von individuellen und kollektiven Identitaet zu kategorisieren waere. Wieder anders schaut es im Falle des Parlamentarismus aus: Hier erweist sich die Politik als weise genug, dem radikalen politischen Kampf einen Tabu aufzuerlegen, hier erwiest sich das Politische also auch als dezisiv. Nicht das Psychologische beeinflusst also das Politische, sondern das Politische reguliert selbst wegen einer psychologischen Herausforderung.
ROMANTHEORIE VERTRITT MASSENPSYCHOLOGIE
“Er ist ein König im Papierreich,” beschreibt Broch Musil[35] und liefert mit diesem Bild gleich eine sehr treffende und gleichzeitig elastische Beschreibung der soziologischen Position auch der polyhistorischen Romanliteratur generell. Zwischen der wahren “königlichen Hoheit” und dem real existierenden “Papierwelt” spannt sich jener Bogen aus, der die Soziologie dieser Literatur umfasst. Der Kampf wird hier nicht unbedingt und unmittelbar für die Macht geführt, denn diejenigen, die miteinander kaempfen, sowohl für einander wie auch für das breitere Publikum bereits im Anfang des Kampfes Könige sind. Man kann auch nicht sagen, dass man für die Einrichtung eines Imperiums die Mühen des Kampfes auf sich nimmt. Man kaempft für die Vollkommenheit und die Perfektion. Der begehrte Gegenstand des Kampfes ist vorerst ein idealer, er gilt auch dann als perfekt und vollkommen, wenn es nur von ganz wenigen gesehen wird. Denn der Kampf richtet sich nicht um eine reale, auch nicht aber auf eine virtuelle Macht, er ist gerichtet auf die Geltung einer neuen Schöpfung. Die Geltung, die kathartische Evidenz macht diese Papierreiche zu wahren Königreichen, deren Geltung und Dauer es tatsaechlich mit der Geltung und Dauer von realen Maechten aufnimmt, diese sogar in der Mehrheit der Faelle – bei Canetti’s wichtigem Schwerpunkt zu bleiben – auch überlebt. Es zwingt sich hier die Aussage auf, letztlich sei es im Falle Mittel-Europas kein Geringerer als eben Adolf Hitler gewesen, der es endgültig vollzog, die ausgedehnten Papierreiche dieser Könige zu zerstören.
Im Banne der gemeinsamen Intention werden die einzelnen Autoren der polyhistorischen Romandichtung in so eine Naehe gebracht, dass dabei manchmal selbst ihre Individualitaeten in Gefahr kommen. Die von Anfang an intendierte Annaeherung hat aber das allergrösste Problem eines circulus vitiosus. Man haette einen Fundus der wichtigsten gemeinsamen Beziehungen notwendig gehabt, um die alterierenden Differenzen auf dieser Basis feststellen zu können, waehrend man diese gemeinsame Basis erst nach einer unter gemeinsamen Aspekten vollzogenen Untersuchung haette identifizieren und beim Namen nennen können. Zu einer wirklich kontextuellen, aufeinander abgestimmten Untersuchung haette man also eine gemeinsame Basis notwendig, waehrend die gemeinsame Basis erst auf einer nicht gemeinsamen Untersuchung ins Reich der Erreichbarkeit gerückt worden waere.
Wenn auch kein Wundermittel, so kann doch die Erschliessung der in jedem Fall sehr komplizierten Beziehung dieser Autoren zueinander zur Auflösung dieses methodischen Zirkelganges beitragen. Damit wird der Dialog als Zwischenlösung funktionieren.
Der Titel des ersten Texts Hermann Brochs über Elias Canetti, “Einleitung zu einer Canetti-Lesung”[36] ist im Kontext einer Veranstaltungsreihe entstanden, die “Dichter werben für Dichter” hiess. Das Verb “werben” drückt Brochs Relation zu seinem jüngeren Kollegen treffend aus. Sein Werben um Canetti’s Beistand und Unterstützung bleibt das leitende Motiv seiner Freundschaft, waehrend die Verweigerung dieses Werbens seitens Canetti auf die selbe Art bestimmend für die ganze Relation bleibt.
Für Broch erscheint Elias Canetti als ein Romandichter, der alle Begabungen enthaelt, schöpferisch einen vollgütigen Konzept aufzubauen. Er sieht in dem jüngeren Kollegen einen Mitstreiter auf einem sehr sensiblen und seltenen Pfade, wo – mit Nietzsche gesagt- die Luft sehr “dünn” ist. Für Canetti erscheint Hermann Broch als ein sehr merkwürdiges Lebewesen, ein Mensch als ein Stück seiner Sammlung aus der Comédie humaine. Waehrend die engere menschliche Dimension Canettis für Broch gaenzlich abgeht, existiert Broch für Canetti mit derselben Einseitigkeit als ein kreatürliches Lebewesen, welchem höchste Aufmerksamkeit gebührt. In Brochs Perspektive erscheint ein Dichter, der seine Romantheorie auf einer nie geahnten Höhe bestaetigen könnte, in Canetti’s Sicht wird ein merkwürdig Wesen sichtbar, das ihn vereinnahmen will.
Sehr vieles sagt von dieser Beziehung aus, dass die eigentliche Gattung, in welcher sie über einander und einander sprechen, die Rede ist. Sie wechseln im wesentlichen keine Briefe, sie schreiben über einander keine regelrechte Buchbesprechung. Sie halten voneinander Reden, durch welche sie den anderen und sich selber vor der literarischen Öffentlichkeit praesentieren. Wie streng geregelt diese Kommunikation ist, zeigt von einer anderen Richtung aus die Tatsache, dass sie – andererseits – über ihre massenpsychologischen Ideen und Forschungen kein Gespraech führen.
Die Sicht des Anderen gründet in den tiefsten Fundamenten des Denkens der beiden Romandichters. Waehrend Hermann Brochs Philosophie eine eklektische und schöpferische Synthese war, die in ihrem Integrationswillen bis zur Grenze des Denkbaren ging, wird Canetti’s Denken von einer spezifischen, dem Wortlaut voll entsprechenden, nichtsdestoweniger aber nicht im Husserlschen Sinne genommenen monolythischen “Wesensschau” beherrscht. Seine natürliche “Wesensschau” ist so praegnant, dass er über seine Methodologie (vor allem natürlich laesst sich das an der Masse und Macht demonstrieren) nicht nur nicht nachdenken will, sondern es eigentlich auch nicht kann.[37]
Indem Broch bei Canetti über einen “Aufbau der Gestalt aus der Logik ihres Seins” redet, hat nur eine andere Form für Caneti’s oben charakterisierte elementare “Wesensschau”.[38] Indem er aber diese als Grundlage nimmt, faengt gleich an, Canetti in seinen eigenen universalen philosophischen und literaturtheoretischen Eklektizismus aufzunehmen, indem er jenem aehnlich lautende Eigenschaften zuschreibt: “…(die Logik des Seins) …(ist)…gleichzeitig die übergeordnete Logik der Gesamtheit und (erfaehrt) von dieser ihre unverbrüchliche und feste Lebensgestaltung…”[39]
Nicht viel anders geht es auch bei Canetti. Seine “Wesensschau” erscheint in der Beschreibung jeder Person, die in seinen Autobiographien auftreten. Über Isak Babel schreibt er folgendes “Er wollte alles in Berlin sehen, aber ’alles’ waren für ihn die Leute.” Ebenso war für ihn “Ein nie zu ersaettigendes Interesse an jeder Art von Menschen” charakteristisch.[40] Waehrend eines beschriebenen und wesenhaften Handlungsvorganges (in dem es die für Canetti schon aus emotionalen Gründen aeusserst wichtige und schon aktuell historische Berliner Begegnung von Karl Kraus mit Bertolt Brecht auseinandergelegt wird) erscheint Brecht in der Prisma dieser Wesensschau als ein geübter “Pfandleiher”, der mit blitzschnellem Blick in jeder Situation und bei jedem Menschen abwaegt, wie viel Nutzen es ihm (d.h. Brecht) bringen könnte.[41] Diese für Canetti charakteristische “Wesensschau” hat, ausser einigen bereits reflektierten methodologischen Zügen, auch noch weitere relevanten Wurzeln. Augenblicklich muss es sehr metaphorisch klingen, wenn wir hier Canetti’s verborgenen Glauben an die Möglichkeit erwaehnen, das Essentielle der Gegenstaende transparent machen zu können oder – bislang ebenfalls nur hypothetisch - den Begriff von Canetti’s “versteckten Animismus” ins Spiel zu bringen.
Dieser grundlegende Unterschied macht sich auch in den Auffassungen über das Pathologische sichtbar. Diese Einsicht (und wenn man im spaeteren keine Angst vor diesem Terminus hat), diese “Technik” des unsichtbaren Überganges zwischen Gesundem und Normalem ist einer der bestimmendsten Züge der Canetti’schen Gestaltpoetik, der um so nachdrücklicher in den Vordergrund treten kann, weil pathologische Fixierungen auch ohne die geringsten Probleme auch als eine Art “Wesensschau” aufgefasst werden können.
Die tiefe “philosophische” Differenz zwischen den beiden besteht darin, dass es bei Broch der “Daemmerzustand” diejenige condition humaine ist, auf welche eine Romanstruktur aufgebaut werden kann, dieselbe bei Canetti ab er eine Sichtweise der vorhin angedeuteten “Wesensschau” ist. Aus diesem Unterschied ergibt sich aber auch eine schwerwiegende romanpoetische Konsequenz. Waehrend es ohne Schwierigkeiten möglich ist, auf Brochs Grundeinsichten eine authentische und originelle Romanstruktur aufzubauen, folgen bei Canetti aus seiner Wesensschau keine konkreten romanpoetischen Konsequenzen. Das ist der Grund dessen, warum der explizit gemachte Ansatz Canetti’s, eine neue Comedie humaine nach dem Muster von Honoré de Balzac auszuarbeiten, gerade die nur in die Extensivitaet auszudehnende logische Konsequenz dieser Einstellung thematisiert.
Waehrend es bei Canetti darum geht, eine Polyphonie durch die Tiefe der Wesensschau der Gestalten zu verwirklichen, ersteht sie bei Broch auf Grund jenes Daemmerzustandes, der schon von Anfang an polyphon, polyhistorisch und simultan ist. Diese auf anderen Wegen sich verwirklichende Polyphonie dürfe Broch auf die Idee gebracht haben, in Canetti’s Romankonzept steckt eine Grundidee, die seiner eigenen Konzeption des polyhistorischen Romans eigen ist. Wie tief und massiv aber Canetti’s Romanpoetik mit seiner Einstellung zur “Wesensschau” verbunden ist, zeigt exemplarisch die berühmte “Bett”-Szene in Blendung, in welcher Kien in seiner Zwangsvorstellung meint, Therese sei eine andere Person, die gekommen ist, um ihn vor Therese zu retten. Die ganze Situation laesst sich unter diesen Voraussetzungen aber technisch nur so erzaehlen, dass Canetti die ganze Ereignisreihe einfach – auf absurde Weise, in rein romanaesthetischer Sicht - zweimal nacheinander erzaehlt.
Diese “Wesensschau” ist es, die Canetti’s Weg zur methodischen Originalitaet auch in anderen Vergleichen bestimmt. Die endgültige Aussagen im Bewusstseinsstrom der Gestalten, ihr staendiger Essentialismus, die Alles & Nichts-Saetze, die staendige Radikalitaet der inneren Spannung sind in Canetti’s dichterischer Wahrnehmung immer da, und zwar nicht nur in seiner “Darstellung der Romanfiguren”, sondern auch in seiner Beschreibung der Figuren seiner autobiographischen Schriften. Veza sagt es in einer der Autobiographien: “Die Achtung vor Menschen beginnt dort, dass man sich nicht über ihre Werte hinweggeht”[42], Karl Kraus wird angesprochen durch den Satz “Man erlernt das Hören”[43], John Heartfield ”bestand aus spontanen und heftigen Augenblicken[44] - “Wesensschau” beobachtet “Wesensschau”.
Canetti dürfe die bewusste oder vielleicht sogar die unbewusste Überzeugung haben, letztlich bestünde das Literarische in der Herstellung von durch Wesensschau gepraegten Gestalten. Die Beschreibung der einzelnen Gestalten, sogar die “der” Wirklichkeit soll eine wahreres Bild derselben geben als sie ist, und zwar durch die Heraufbeschwörung von “Wesenheiten”. Diese Einstellung kann unter dem Blickwinkel des Mimesisbegriffs der allgemeinen Aesthetik auch angesehen werden, es faellt nur auf, dass eine so direkte Interpretation des Mimesisgedankens im Kontext des polyhistorischen Romans aus dem Kontext herausfaellt. Über Leonhard Frank wird etwa folgendes gesagt: “…ein Satz und er haette sich als Panther der Laenge nach über den ganzen Tisch geschwungen”[45], Isak Babel “…kam nicht als Schauspieler seiner selbst…”[46] Mit diesen und aehnlichen Bestimmungen kommt Canetti in den Besitz eines anderen Menschen, wie ein Parodist, der einen schon “hat”, wenn er über seine “Maske” und seine “Stimme” verfügt.
Gerade in der Broch-Canetti-Beziehung wird immer wieder thematisch, wie auf der Ebene der persönlichen Beziehung oder auf derselben der Romanaesthetik dieser Unterschied der “philosophischen” Einstellung reproduziert wird. Brochs Canetti-Strategie ist eindeutig, ihre inhaltliche Verwirklichung schwankt aber zwischen den Ausgangsthesen (die Canetti als einen grossen Kommenden sehen, der einmal die Brochsche Konzeption des superkomplexen polyhistorischen Romans verwirklichen wird) und der konkreten Einsicht in Canetti’s Eigenart einer Kunstphilosophie der Wesensschau. An einer sehr wichtigen Stelle bezeichnet er Canetti’s Dichtkunst als ”rationale Darstellung unter einem ethischen Zweck”, was seinen eigenen romanpoetischen Grundsaetzen ja so aehnlich klingt. Er setzt es aber so fort: “Aber abgesehen davon, dass dies kein Vorwurf ist, denn auch das Rationale wird in der Hand eines Dichters zum Kunstwerk, so wird hier mit solch kalter, ja unbarmherziger Methode mehr als etwas blos Aesthetisches bezweckt: hier wird die Methode wie in jedem echten Kunstwerk – einem ethischen Zweck unterstellt, und das Ethos der Canettischen Kunst ist die Rückführung des Geschehens auf die Angst…”[47]
Dieser Text zeigt exemplarisch Brochs oben angesprochenes Schwanken, denn darüber kann kein Zweifel bestehen, dass diese “kalte, ja unbarmherzige Methode” nicht Canetti’s psychologische Eigenschaften oder sonst welches schöpferische Wollen zu bezeichnen berufen ist, diese Beschreibung referiert einfach das, was wir als Einstellung zur philosophischen und romanesthetischen “Wesensschau” nannten. Es ist ein organischer Teil von Brochs “Werbung” um Canetti, dass er dessen “Wesensschau” ein ethisches Ziel unterschiebt und das in demselben Satz noch mit der “Angst” erklaert. Broch bleibt aber nicht nur bei der Erklaerung der “Wesensschau” als einer moralischen Initiative gegen Angst stehen. In einem schon literaturhistorisch konkretisierten Vergleich bringt er diese Einstellung auch mit Canetti’s spezifischer Attitüde zur Masse in Verbindung: “Meinen Sie es nicht, dass es sich dabei um eine Kunst nach der Art E.T.A.Hoffmanns oder Edgar Allan Poes handelt. Wenn es zu diesen bei Canetti Beziehungen gibt, so bloss in der karikaturistischen Konturierung der Gestalten. Die Angst, die Canetti erweckt und erwecken will, steht vielmehr in enger Beziehung zu seinem Glauben an die überindividuelle Masse und an das Massenbewusstsein.”[48]
Broch kommt aber auch damit noch nicht zu einem Ende. “Wesensschau” wird also zunaechst durch seine Einsicht in das Angstphaenomen erklaert und unverzüglich auch mit universalistischen ethischen Motiven versehen, sie wird weiter auch intellektuell ausgebaut (Canetti ist ja ein Experte für die Interpretation der Masse): “Es ist gewissermassen eine positiv gewendete Angst. Denn Canettis nahezu hasserfüllte Bevorzugung der grotesken und abseitigen Menschengestalt entspringt der Überzeugung, dass das Individuelle von vornherein bloss Verzerrung sein kann…”[49]
Indem Broch Canetti’s gestaltpoetische Intentionen analysiert, scheint er manchmal zu vergessen, in wessen Namen er eigentlich redet. Denn indem er es fortsetzt, Canetti im Zuge seiner Werbung um ihn durch seine eigene Begrifflichkeit zu beschreiben, “rettet” er ihn aber gleichzeitig vor dem “Schein”, seine im Zeichen der “Wesensschau” konzipierte Gestaltpoetik könnte eine unreflexive und naive, d.h. rein literarische Verfahrensweise geblieben sein. Zu all den genannten Motiven unterschiebt er Canetti damit eine bewusste Strategie (die der seinigen nicht so fern steht): “Was aber Canetti will, ist mehr; indem er seine Gestalten, und damit den Leser, in die Angst des Irrsinns jagt, will er jene tiefste Zerknirschung erreichen, die bloss mit Eckhards ’Abgeschiedenheit’ zu vergleichen ist. Er will den Menschen und seine Indidivuumshaftigkeit, die nicht nur das Irrsinnige, sondern auch das Sündige ist, immer ist es die alte Idee von der Besessenheit, die wieder aufscheint - , zu jenem letzten Nichts reduzieren, von dem aus erst wieder die Umkehr möglich wird. Und diese Umkehr ist die Rückkehr ins Überindividuelle, ist die Gnade des Meers in das der Tropfen zurückfaellt.”[50] Dieser letzte Teil in Brochs Praesentation gibt nicht nur eine volle Erklaerung der schriftstellerischen Methodik Canetti’s, sondern versieht sie sogar mit einer tiefgreifenden, wenn nicht eben revolutionaeren Mission! Die Dialektik dieser Mission ist aber ein intellektueller Besitz von Broch (und hat mit Canetti’s Intentionen gewiss kaum etwas zu tun), es ist aber nicht zu leugnen, dass sie – klassisch-dialektisch – gerade das Essentialistisch oder das Minimalistische in Canetti’s Wesensschau zum Ausgangspunkt des dialektischen Sprunges nimmt.
Die Differenz bleibt. Denn wenn der Ausdruck “Wesensschau” bei Broch überhaupt einen Sinn hat, so referiert er ein Ganzes oder, mit Broch zu sagen, die “Totalitaet”. Darauf baut der Konzept des polyhistorischen Romans bei Hermann Broch. Dass aber Canetti mit einer umfassenden Einstellung zur “Wesensschau” ohne Reflexion und demgemaess auch ohne Metasprachen auskommt, ist klar und dieser grundlegende Unterschied kann zwischen den beiden Konzepten nie aufgehoben werden[51].
Die Aeusserungen Canetti’s über Hermann Broch insistieren mit kritischer Konsequenz auf Momenten in Brochs Romanpoetik und dichterischer Praxis, die in der Konstruktion des Brochschen polyhistorischen Romans grundlegend konstitutiv sind. Canetti zieht diejenigen Hintergründe ohne Agression, nichtsdestoweniger jedoch konsequent in Zweifel, die hinter Brochs Vorstellungen stehen und dadurch delegimiert er die ganze Konzeption.
Im Kontext der Broch-Joyce-Relation versucht es Canetti überhaupt nicht, die hierzu gehörenden strengen romantheoretischen Momente anzuführen. Es faellt um so intensiver auf, weil gerade Broch es selber war, der im Rahmen seiner Promotionsaktivitaeten den Joyce-Bezug unermüdlich ins Gespraech bringt. Die romantheoretischen Momente sind somit für den anderen Romandichter ohne Belang, um so intensiver richtet sich aber sein Interesse auf die menschlich-psychologische Seite dieser Relation. Für Canetti ist es ein Grund des Wunderns über “Menschliches-Allzumenschliches”, dass Broch sich keinen anderen Ruhm und kein tieferes Glück vorstellen kann, als ein deutscher Joyce zu sein.[52] Das Wesen Broch wird von dieser Sympathie gekennzeichnet, die Verbindung zur Romantheorie und dadurch zum eigenen Romanschaffen wird übergangen.
Aehnlich sieht Canetti auch Brochs Relation zu Freud. Wieder ohne Agression und Ironie deutet er ganz unmissverstaendlich an, dass er es problematisch, wenn nicht gar unangenehm findet, wie Broch zu Freud steht. Aehnlich wie im Falle von Joyce, denkt Canetti wieder nicht in geistigen Zusammenhaengen, auch nicht in denen des polyhistorischen Romans. Im Bann seiner Wesensschau wird er nur auf den Charakter der Beziehung fixiert, der ihn in Verwunderung setzt, denn Broch zeigte sich im Zusammenhang von Freud auch bei Inhalten fasziniert, die “…in damaligem Wiener Sprachgebrauch von alltaeglichster Banalitaet gerade war(en)…”[53].
Der Charakter, aber auch die Richtung der beiden Einstellungen sind eindeutig. Diese scheinbar zufaelligen Akzentsetzungen sind die Pfeiler von Brochs mit grossem Eifer verbreiteter Konzeption über einen Typus des polyhistorischen Romans.
Brochs Strategie erscheint in Canetti’s folgender Charakterisierung, ohne dass es uns aufgegeben waere, sie mit den Thesen unserer Arbeit in detaillierter Weise in Verbindung zu bringen: “Broch gab immer nach, er nahm nur auf, indem er nachgab. Das war kein komplizierter Prozess, das war seine Natur, und ich glaube, es war eine richtige.”[54] Schöner haette man auch jenen Prozess nicht beschreiben können. Es ist wieder eine neue Facette derselben Einstellung, dass Canetti eine Eigenschaft in Brochs Attitűde kritisch unter die Lupe nimmt: “Die Unwissenheit des Sprechenden, dessen Worte von keiner der herrschenden philosophischen Terminologien gefaerbt waren, liess ihn den Gehalt des Gesagten völlig übersehen, auch wenn es seine Eigenart hatte. Es war die Kraft der Absicht, was ihn traf, der der Anspruch auf eine neue Lehre, die einmal dastehen würde, und obschon sie – ausser in kümmerlichen Ansaetzen – noch gar nicht bestand, empfand er diese Absicht als Befehl und liess diesen Befehl, als waere er an ihn gerichtet, in sich nachwirken…”[55] Wort für Wort erscheint in diesem Gedanken eine Attitüde, die gegen die Anerkennung einer “Wesensschau” Canetti’scher Praegung gerichtet war (es geht um einen Sprecher, der keine der herrschenden Terminologien beherrscht und dessen Aussagen doch eine Eigenart haben, die “Absicht” eines Sprechers ergriff ihn, freilich nur wenn sie in einer der herrschenden Terminologien ihre Innovation zu verwirklichen suchte…).
Es heisst, dass Broch nur durch eine Broch adaequate und Canetti ebenfalls nur durch eine Canetti adaequate Weise verstanden werden kann. Broch kann ohne eine Hypothese nicht verstanden werden, welche seine Entscheidungen für einen universalen Polyhistorismus ausser acht laesst, Canetti kann man auch nicht verstehen, wenn man seine tiefliegende Überzeugung, die Literatur soll die menschliche Realitaet durch Wesensschau neu reproduzieren, ignoriert. Es versteht sich von selber, dass dieser Tatbestand wieder ein neues Licht auf die Diskussion über die affirmative Forschung wirft. Broch selber kann naemlich durch eine durch Broch gepraegte Methode verstanden werden und dasselbe bezieht sich auch auf Canetti.
Die beiden auf vielen übereinander liegenden Schichten sich reproduzierenden Grundeinstellungen haben aber auch ihre Dialektik. Indem Broch über Canetti feststellt, “Das sind keine wirklichen Menschen mehr…Das wird zu etwas Abstraktem…”[56], kehrt er Canetti’s Wesensschau um. Es ist eine wahre Umkehrung, denn hier waechst “Abstraktion” aus einer nicht-abstrakten “Wesensschau” heraus. Konkretes wird, vollkommen legitim, als Abstraktes erlebt.
Die Dialektik funktioniert aber auch in umgekehrter Richtung: Canetti’s Wesensschau wird eine methodisch anmutende Abstraktion, Broch “methodisch konstruierte” universalistisch-polyhistorische Gestaltpoetik wird aber (durch Daemmerzustand) auch “Wesensschau”, mit Gestalten an der Spitze, die zu den grössten Errungenschaften dieser Romanliteratur gehören.
Ein würdiges Ende dieser einmaligen Reflexiven Paar-Beziehung Broch-Canetti liefert Canetti’s berühmte Nobelpreis-Rede. Elias Canetti, der in seinem grossen psychologischen Werk die Problematik des Überlebens so tief und vielschichtig thematisiert, hat jenen Hermann Broch überlebt, der vergeblich so viele Energien darauf verwendet hatte, ihn für seine Romankonzeption zu gewinnen. Und dieser Überlebende auf dem wirklichen Gipfel seiner Laufbahn unter anderen auch jenen Hermann Broch als seinen Kollegen und Vorgaenger erwaehnt, der diesen Preis eher verdient haette. “Dichter werben für Dichter”.
SYMBIOSE MIT DER PSYCHOANALYSE
Sowohl die Romandichtung, wie auch die Massenpsychologie von Hermann Broch vollzog sich historisch und intellektuell im umfassenden Fluidum der Psychoanalyse. Es durchdrang
das intellektuelle und das politische Leben, auch auch das bürgerliche Privatleben und das Alltagsbewusstsein.
Zunaechst geht es um das weitgehende Akzeptieren des Wahrheitsgehalts der Psychoanalyse, die auf der anderen Seite die Kompetenz und die Legitimation für diese Lehre abgibt, auch als möglicher Gesamtrahmen für ein theoretisches Weltbild und für ein lebenspraktisches Engagement zu funktionieren. Zweitens folgt aus dieser Grundeinstellung, dass man die Psychoanalyse für das eigene (wie es bei Broch bis zum Ende der Fall wird) Leben und – wie es bei den Analytiker(innen) gilt, für das therapeutische Erklaerung von Fremdleben konkretisiert. Drittens enthaelt die Lehre für die zwanziger und dreissiger Jahre schon so viele methodische Alternativen, dass die eigene Positionierung unter diesen Alternativen innerhalb der Bewegung schon mit einer klaren Parteinahme für eine intellektuelle und damals praktisch auch für eine politische Gruppe gleichbedeutend ist. Viertens kommt es im Falle eines(r) schöpferischen Intellektuellen gewiss ein Punkt, als die therapische Funktion der Psychoanalyse in Konflikt mit der eigenen schöpferischen psychologischen Substanz geraet. Der Dichter, der Schriftsteller, der Philosoph will nicht um jeden vorstellbaren Preis gesund werden, die Psychoanalyse wird auch für fremde Ziele angewendet, das geniale Kunstwerk heilt vielleicht die Neurose nicht, gilt jedoch als geheimes Ziel der Selbsterkenntnis in der Psychoanalyse selber.[57]
In historischer Perspektive ist es schon klar, dass sich aus diesen Grundperspektíven der Psychoanalyse als universalen Mediums durch die Ausbildung der „neuen” Klasse der Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit gerade die antagonistische Rivalitaet mit dem (stalinistisch gewordenen) Marxismus als der bestimmendste Faktor erwiesen hat. So alarmierend es auch für unsere diskussions- und konsensorientierte intellektuelle Kultur es auch scheinen mag, war es ein steinharter Kampf von Dogmen. Die „rein theoretischen” Probleme waren in Wirklichkeit Machtfragen. Die Situation kann dadurch noch einen Schritt komplizierter gemacht werden, dass man nicht unbedingt die Position vertreten muss, diese sich selbst diese als Machtfragen transformierenden wissenschaftlichen und theoretischen Diskussionen haetten jegliche wissenschaftliche und theoretische Relevanz entbehrt. Das Gegenteil dieser Aussage laesst sich aber überhaupt nicht mehr formulieren. Ihre wissenschaftliche und theoretische Relevanz war in keinem Augenblick in der Lage, aus weltpolitisch und klassenkaempferisch bindenden Machtinteressen wieder wissenschaftliche und theoretische Zusammenhaenge zu gestalten.
Die Kontrahaenten dieses Machtkampfes sind der langsam siegreich werdende Stalinismus mitsamt seinen durschlagenden zitatologischen Vorschriften und die psychoanalytische Bewegung. Die Kontroverse war scheinbar nur „ideologisch”, was ja zu dieser Zeit auch nicht etwas Beliebiges bedeutete, ein ideologischer Unterschied war eine gleichberechtigte Komponente des Machtkampfes selber. So selbstverstaendlich diese Funktion für jeden Kenner der Totalitarismen auch sein sollte, erscheint diese Totalisierung jeglichen intellektuellen Ansatzes für heutige Leser als gespenstisches Phaenomen. Der rein „ideologische” Charakter war aber jedoch seinerseits wieder als ein Schein, denn aus der Psychoanalyse jener Zeit (ob mit marxistischen Ansaetzen verbunden, oder nicht) entwuchsen ganze Optionen für die Interpretation der Weltgeschichte und dementsprechend für die politische Praxis, so dass der intellektuelle Machtkampf zwischen stalinistischem Marxismus und gesellschaftlich oder historisch orientierte Psychoanalyse auch einen primaeren politischen Gehalt aufwies.
Auch wenn Hermann Broch selber mit dieser konkreten Kontroverse des stalinistischen Marxismus und der Psychoanalye unmittelbar nicht zu tun hatte, nahm er an dem breiteren Prozess der Entwicklung dieser Lehre durchaus intensiv teil. Dieser war ein breiter Fluss von aufkommenden analytischen Richtungen, die die Freudsche Orthodoxie als zu eng erlebten und die Lehre allein schon wegen der einmaligen und welthistorisch zu nennenden Herausforderungen weiter gestalten wollten.
Analog ist dieses Interesse Brochs für die von diesen politischen Motiven bestimmte intellektuelle Szene zur Entfaltung seiner dramaturgischen Konzepte. Eine ebenfalls nur indirekte Auseinandersetzung mit zeitgenössischen linken Diskussionen macht es naemlich deutlich, dass Broch durch seine Stücke eine gleichwertige nicht politische Alternative zu Bertolt Brechts anti-aristotelische Dramaturgie aufstellen will.[58]
Eine der relevantesten Beziehungen, die Hermann Broch zu der lebendigen Bewegung der internationalen Bewegung der Psychoanalyse verbunden haben, war die mit Edit Gyömrői.
Edit Gyömrői ist von den zehner Jahren ab mit René Árpád Spitz freundschaftlich verbunden. Spitz ist aller Wahrscheinlichkeit nach der erste ungarische Psychoanalytiker jener ganz jungen Generation, zu der auch Gyömrői gehörte. Er studierte Freuds Schriften bereits als Student und besuchte den Meister 1910 auch in Wien. Seine Rolle in der Entwicklung Gyömrőis zur Psychoanalítikerin ist bestimmend. Sie werden im spaeteren gleich Mitglieder der Galilei-Gesellschaft, machen eine gemeinsame intellektuelle Entwicklung in den spaeten Kriegsjahren durch (waehrend dessen kaempft Spitz auch an der Front), werden Mitglieder des Sonntag-Kreises um Georg Lukács[59], nehmen an den turbulenten politischen Ereignissen der Károlyi-Revolution und der ungarischen Raeterepublik teil. Sie treten dann konsequent auch den Weg der Emigration an, die anfangs (und dann von Zeit zu Zeit immer wieder) nach Wien führt. Es ist deshalb vollkommen evident, dass Spitz mit Gyömrői wie eng familiaer verbunden war.[60] Nun ist das Merkwürdige dabei nicht, dass Hermann Broch René Árpád Spitz von Wien aus auch kennt und mit ihm auch regelmaessig korrespondiert. Die entscheidende Tatsache ist, dass Broch ebenfalls im Rahmen einer beinahe familiaeren Beziehung zu Daisy und Daniel Brody steht. In den spaeten zwanziger und den frühen dreissiger Jahren sind sie durch das Projekt der Herausgabe des ersten deutschsprachigen polyhistorischen Romans am engsten verbunden. Daisy Brody, auch als Daisy Spitz, ist aber die Schwester von René Árpád, so dass durch diese beiden, sehr engen Beziehungen (Gyömrői - Spitz, Broch – Ehepaar Brody) haben Gyömrői und Broch einen staendigen Kommunikationskanal, von dem man mit schlagender Evidenz annehmen muss, dass er die Verbindung zwischen ihnen ohne Unterbrechungen am Leben erhielt. So ist es alles andere als verwunderlich, dass als 1934 Broch ein Gedicht an Gyömrői widmet, es einen seelisch und intellektuell permanenten Kontakt erahnen laesst: „…(es) ist, wie Du siehst, nicht das Schlimmste”.[61]
Die Beziehung Gyömrői-Spitz mit ihrer chronologischen Laenge und inhaltlicher Vielfalt ist Etalon für intellektuellen Freundschaften dieser Generation, sie ist aber überhaupt nicht die einzige von diesem Reichtum. Um dies auch mit Broch zu verbinden, nehmen wir nun (in abgekürzter Form) die Beispiele von Otto Fenichel (der Gyömrői in Berlin ausbildete und auch im spaeteren mit ihr in Verbindung blieb) und von Karl Federn, der ja in der USA Brochs Analytiker und Gespraechsparter in Sachen der Psychoanalyse war.
Paul Federn nahm schon 1918 an der Internationalen Tagung der Psychoanalyse in Budapest teil (Harmat, 1994, 85), so dass als gesichert gelten muss, dass er Gyömrői schon damals kennenlernte. Er hielt 1927 in Budapest einen Vortrag im Psychoanalytischen Verein über Depersonalisation (Harmat, 1994, 134). Er polemisiert 1924 in Wien über die schon damals von Ferenczi vorgeschlagene „aktive” psychoanalytische Technik und betonte, solche Innovationen werden in der Praxis in breiten Kreisen gebraucht, nur redet niemand darüber. Brochs spaeterer amerikanischer Analytiker behauptet nach Ferenczi’s Tod, dass letzterer in der Anwendung der aktiven Technik „zu weit” ging (Harmat, 1994, 162-163), wir können nur hoffen, dass er in den USA die psychoanalytischen Tagebücher verfassenden Hermann Broch nicht in dieser Richtung beeinflusst. Er schrieb 1933 einen Nekrolog über Sándor Ferenczi (IZP, Jg. 19, 305 – 321) und nimmt 1936 in Marienbad mit René Árpád Spitz an einer gemeinsamen Tagung teil, waehrend im Mai 1937 an der sogenannten Vierlaenderkonferenz sowohl Federn, wie auch Fenichel und Gyömrői persönlich teilnehmen (an der Konferenz praesidiert Fenichel am letzten, Federn am ersten Tage und beiden halten auch ihren Vortrag).
Über Otto Fenichel erscheint ein Bericht über seine Taetigkeit in Korunk im Jahre 1928 (eine Zeitschrift, in der Gyömrői auch eine Autorin ist), er diskutiert regelmaessig mit Mihály Bálint, kennt David Rapaport auch sehr gut. Im Oktober 1935 besucht er Budapest und es ist müssig, daran zu denken, dass der Fenichel, der alle Bemühungen unternimmt, um seine wissenschaftliche Gruppe nach der Flucht aus Berlin zusammenzuhalten, in Budapest gerade Gyömrői nicht besucht.
Mit Emmy Ferand und Jolanda Jacoby (die als eine der führenden Schülerinnen von Jung auf Broch auch in diesem Zusammenhang wirkte) faengt die unendliche Liste jener Persönlichkeiten an, die der Berliner psychoanalytischen Szene gehörten, mit Fenichel und mit seiner Richtung verbunden waren und von denen man mit Sicherheit annehmen kann, dass sie sowohl Gyömrői wie auch Broch gut kannten. Sándor Radó (der die psychoanalytische Ausbildung der spaeteren „Freudomarxismus” macht, indem er Wilhelm Reich und Otto Fenichel ausbildet), Margit Mahler (Schönberger) (auch bei Federn ausgebildet) , Barbara Lantos (Borbála Rippner), Therese Benedek, die mit Ungarn (und René Árpád Spitz) in sehr komplizierten biographischen Relation stehende Melanie Klein (mit der Gyömrői nach 1945 in England intinsiv zusammenarbeitet) gehören in diese Liste, aber auch Alice Bálint, Nicolas Abraham, Lajos Székely, György Gerő (ein Reich-Schüler in Berlin zu Gyömrőis Berliner Zeit), Aranka Böhm (die Frau des berühmten Schriftstellers und Kritikers der Psychoanalyse Frigyes Karinthy), auch in Wien ausgebildete Analytikerin. Durch René Árpád Spitz wird ein weiteres System von Kontakten hergestellt und gepflegt, vor allem Géza Róheim gehört hierher (der nach gewissen Quellen für kurze Zeit auch Attila József behandelte).[62]
Wie erwaehnt, galt Edit Gyömrői von Anfang an als Mitglied der psychoanalytischen Familie in Ungarn und genoss deshalb stets einen persönlichen Sonderstatus in diesem Kreis.[63] Eine wichtige Konsequenz dieses Status ist, dass sie in den dreissiger Jahren als linke Analytikerin in Ungarn zu keinen sichtbaren Spannungen und Rivalitaeten mit den Orthodoxen gezwungen war und konnte ihre eigene Position in dieser grössten Auseinandersetzung des Jahrzehntes selber waehlen und gestalten. Waehrend sie eine engagierte Linke war (wenn auch von der Kommunistischen Partei offiziell 1934 ausgeschlossen), verteidigte sie in ihren Publikation nicht selten authentisch-orthodoxe psychoanalytische Positionen gegen marxistische Auflösungsaspirationen.
Eine noch weiter reichende gehende Aufwertung des Freudomarxismus trifft aber nicht nur die links eingestellte Gyömrői, sondern auch den apolitischen Hermann Broch. Eine genuin welthistorische Ironie will es, dass gerade auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen (stalinistischem) Marxismus und Psychoanalyse Hitler an die Macht kommt, welche Tatsache in diese Auseinandersetzung selber mit unglaublicher Staerke hineinfunkt. Denn selbst die am mechanischsten denkenden Stalinisten müssen plötzlich wahrnehmen, dass die bis dahin verpönten psychologischen Momente in dieser Machtübernahme doch eine Rolle gespielt haben. Dieses Faktum wird (unter anderen) Hermann Broch die Möglichkeit geben, seine Zerfallstheorie mit den neuen historischen Ereignissen, aber auch seine Psychogeschichte mit der psychologischen Geschichte des Zeitalters in Verbindung zu bringen.
Diese gesteigerte Relevanz umgibt also Gyömrői selbst noch in ihrer zweifachen Verdammung, denn Hitlers Machtübernahme erwies sich doch nicht stark genug, um die zwei, „symmetrischen” Ausschliessungen seitens der Kommunistischen Partei und/oder seitens der Psychoanalytischen Bewegung rückgaengig zu machen. Auf diese Weise war Gyömrői nicht nur eine Frau von mehreren Kulturen oder die von zwei und dann von mehreren Gesellschaften, sondern auch diejenige in mehreren sozialen Rollen und Berufen.
Elias Canetti fand es als eine leitende Eigenschaft Brochs, dasss er Freud wirklich „verfallen” war. Mutatis mutandis laesst es sich über Gyömrői auch aussagen, man sollte sogar feststellen, dass ihre Zugehörigkeit zur Bewegung auf ein früheres Datum zurückging und etwa zur Zeit ihres Bekanntwerdens in Wien (1918-1919) galt sie als ein Familienmitglied der ungarischen Psychoanalyse. Für beide gilt es aber auch, dass eine bedingungslose Identifizierung mit Freud und der Psychoanalyse dieglechzeitige Intention überhaupt nicht ausschloss, die Psychoanalyse weiter zu entwickeln, weiter zu denken, selber zu ergaenzen und auch die Ergebnisse ihrer eigenen Selbstbestimmung in die stets sich modifizierende Lehre einzuarbeiten.[64]
Wir erwaehnten vorher,[65] dass Broch letztlich durch seine erfolgreiche Analyse am Ende der zwanziger Jahre überhaupt erst in die Lage gekommen ist, seine grosse Trilogie überhaupt erst schreiben zu können, wobei wir bei der Heraufbeschwörung der hier in Frage kommenden Schwierigkeiten nicht so sehr an die Neurosen, vielmehr an die extrem hohe Intellektualitaet des Dichters denken müssen, die durch die reichen Inhalte des Unbewussten einfach durchbrochen werden sollten, um vor der dichterischen Produktion den Weg frei machen zu können. So dürfte es vorkommen, dass diese Behandlung letztlich nicht genau die Funktion erfüllte, die Broch sich selber dachte, es sollte dabei mehr um die kognitive als eben um die psychische Strukturen gegangen sein.
Diese grundlegende Funktion der ersten psychoanalytischen Behandlung aendert aber an der Tatsache nichts, dass Broch sich auch spaeter mehrfach im Sprach- und Koordinatensystem der Psychoanalyse geaeussert haette. Davon zeugen vor allem seine Anfang der vierziger Jahre geschriebenen „psychoanalytischen Autobiographien” („Autobiographie als Arbeitsprogramm” 1941 und „Psychische Selbstbiographie”, 1942 in Princeton niedergeschrieben) (S. Broch, 1999.). Wie Attila József’s „Verzeichnis freier Ideen”, sind auch diese Texte von Broch an konkrete Adressat(inn)en geschrieben und haben neben ihrer analytischen Funktion die Funktion der Selbsterklaerung, auch vor sich selber.
Der Text „Autobiographie als Arbeitsprogramm” ist – wenn man ihn unter diesem Aspekt sehen will – nicht mehr eine Kritik der engsten Auffassung der Psychoanalyse, sondern schon eine Manifestation dieser Kritik. Hier erscheint die existentielle Problematik des Dichters auf seiner eigenen Sprache. Diese Sprache ist aber zutiefst von der psychoanalytischen Vokabular durchdrungen. Bei allen Unterschieden kann dieser Text deshalb als das psychologische (psychoanalytische) Tagebuch von Hermann Broch aufgefasst werden. Als solches ist er ein wertvolles Dokument einer postfreudianischen Psychoanalyse, denn wer hier spricht, ist ein (ehemaliger oder aktueller) Patient, der die Sprache der Psychoanalyse völlig frei und selbstaendig mit der eigenen Sprache vereint.
Es ist freilich schon eine ganz andere und eigentlich bereits eine neue Frage, dass Broch durch diese einheitliche Sprache auch eine Einheit in sein Lebenswerk hineinbringt, in dem durchgehend Brüche, Fragmentation und staendiger produktiver Chaos die vorherrschenden Momente waren. Die Einheit der psychoanalytischen Anschauungsweise bringt also Einheit in eine schöpferische Laufbahn, in der diese Einheit in Wirklichkeit nicht anwesend war. Zwar ist es zutreffend, dass „die Geschichte eines Problems ( des ethischen Relativismus)” Broch tatsaechlich stets beschaeftigte, man dürfte trotzdem nicht sagen, dass es in dieser einen Form die vielfachen Facetten (etwa, nur um dieses eine Beispiel zu nennen: die vielfachen Problemstellungen des polyhistorischen Romans) fokusartig zusammenfassen könnte. In dieser Formulierung schwingt schon die Problematik des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der ganzen mit ihnen zusammenhaengenden Problematik der Verantwortung auch mit. Broch moralisiert in und mit dieser Sprache seine extrem vielschichtige Auseinandersetzung mit der wert- und geschichtsphilosophischen Problematik seiner Jugendjahre durch, mit dieser Durchmoralisierung geraet er aber auch in die Naehe jenes Politischen, dem er sich in den Exiljahren mit so grossem Elan widmen wird. Die psychoanalytische Sprache hilft Broch, durch ihre Einheit den Königsweg vom Daemmerzustand zur Demokratietheorie und Bill of Rights zu schlagen.
In diesem Text erscheint ein Hermann Broch, der nicht den grossen deutschsprachigen polyhistorischen Roman zur Welt setzen wollte, sondern sich stets mit den im Nietzscheschen Sinne genommenen „ökumenischen” Menschheitsproblemen auseinandersetzte, die auf eine organische Weise in einen gewaltigen und umfassenden multidisziplinaeren Diskurs hinübergeströmt haben.[66]
Broch erhebt somit die den Patienten involvierende Psychoanalyse auf eine höhere Stufe. Hermann Broch erschafft eine eigene und bereits weit abgeklaerte Sprache eines Intellektuellen, der sich im Medium der Sprache der Psychoanalyse schon mit voller Freiheit bewegt. Er schafft eine neue Art des Diskurses. Er richtet sich nicht in der ersten Linie auf eine Erschliessung des eigenen Unbewussten, er zielt auf eine in jeder Hinsicht ganzheitlichen Darstellung des eigenen psychologischen und intellektuellen Lebensweges. Es entsteht dadurch eine Metasprache, eine vollkommen neue Gattung der Artikulation. In ihr vereinigen sich die Stimmen des Patienten, des Analytikers und des Metaphilosophen (der eine Art „Supervision” ausübt). Die Funktion dieser Sprache ist nicht mehr die Therapie, sondern die Selbsterklaerung. [67] In dieser Hybridisierung der Rollen und der Sprachen erscheinen Saetze, die ohne diese Rahmenbedingungen geradezu ironisch oder komisch auswirken würden (etwa: „Meine Neurose scheint jede Analyse zu verhindern…” und andere). Die inkommensurable neue Qualitaet dieser Sprache (und die damit zusammenhaengende neue Qualitaet des Funktionswandels der Psychoanalyse) steht ganz ohne Zweifel, auch wenn man auch darauf hinweisen muss, dass so beschaffene psychoanalytische Selbsterklaerungen in Hermann Brochs Korrespondenz seit je in grosser Anzahl bereits vorgekommen sind. Es zeigt, dass Hermann Brochs eigener Diskurs schon eine fleischwerdende Überwindung einer orthodoxen Sichtweise der Psychoanalyse war. Das heisst aber nicht, dass Broch auch nicht bewusst Gedanken darüber gemacht haette[68].
Gyömrői war sicherlich nicht die einzige Person, die Broch in dieser Richtung beeinflusst hat, sie war jedoch sicherlich eine, deren ganze Laufbahn und diesbezügliche besonders relevante Position für Broch zeit seines ganzen Lebens bewusst gewesen sein dürfte. Als indirekter Beweis dafür gilt Brochs Brief an René Árpád Spitz (05.10. 1939), in dem er den Tod Sigmund Freuds als Symbol „nicht für den Untergang einer alten Welt, der er angehört hat, sondern für den einer neuen, der unseren Wünschen entsprochen haette” erachtete.[69] Und selbstverstaendlich müssen wir an dieser Stelle noch auf die bereits erwaehnte Dualitaet zurückkommen, von der wir schon aussagen dürften, sie war nicht nur für Hermann Broch charakteristisch, seine „Verfallenheit” der Psychoanalyse gegenüber und seine durchgeistigte Bewunderung Freuds war (nicht nur bei ihm) kein Widerspruch, sondern ein spezifisches Phaenomen, das auf einen sicher zu nehmenden Doppelstatus der Freudschen Lehre hinweist.[70]
In einem gewissen Sinne kann man sagen, die Psychoanalyse „lebt” und entwickelt sich in dem(r) Intellektuellen Hermann Broch (und Edit Gyömrői) und nimmt staendig aktuelle Anwendungsmöglichkeiten an. In einem Brief (gerade an seine Analytikerin Hedwig Schaxel-Hoffer schreibt er über die Beziehung des Vergil-Romans mit seiner persönlichen, psychoanalytisch zu nennenden Problematik.[71] Dies ist nicht nur sehr charakteristisch, weil er an anderen Stellen diese enge Beziehung auch relativiert, sondern auch deshalb, weil es im Vergil deutlich weniger intensive psychoanalytische Wurzeln zu erleben sind als etwa in der Schlafwandler-Trilogie. Abgesehen also von der Oszillation der eigenen Beurteilung des Romans, kann man auch ein Bild darüber vermittelt bekommen, wie sich selbst die Semantik des Begriffs „Psychoanalyse” im Gewebe des Romans in der Zeit wandeln kann.
Im zweiten Text aus Brochs psychoanalytischen Tagebüchern („Psychische Selbstbiographie”, 1942-1943) wechselt sich die Intention der nunmehr ebenfalls einheitlichen Sprache der psychoanalytischen Autointerpretation. In diesem in der Broch-Literatur auf eine frappante Weise als „Abschreckungs”-Text apostrophierten Selbstbiographie 1942-1943 wird der Konflikt und letztlich die Unvereinbarkeit der auf sich genommenen Arbeitsaufgaben mit dem „sogenannten Leben” und vor allem natürlich mit voll ausgefüllten Liebesbeziehung(en) konkret thematisiert. So ungewöhnlich, wenn man will, sogar sensationell diese Bekenntnis auch ist, findet man auch hier die eigene und bereits weit abgeklaerte Sprache eines Intellektuellen, der sich in der Sprache der Psychoanalyse mit voller Freiheit bewegt. Die thematische Verschiebung im Verhaeltnis zu „Autobiographie als Arbeitsprogramm” hat insofern Bedeutung, dass diese von Broch sich zu eigen gemachte psychoanalytische Sprache jetzt bisher tabuisierte und nicht sozial artikulierbare Inhalte ohne sichtbare Schwierigkeiten artikuliert.
Es erscheint auch hier eine mehrfache Metasprache. Sie vereinigt die Rollen des Patienten, des Analytikers, des Beobachters und des Metaphilosophen. Hier redet auch nicht „der” Patient der Behandlung, sondern „ein” Patient, der die Aspekte und die Sprache des Analytikers voll beherrscht. Er wird in der Tat der Arzt seiner selbst, mehr noch, der Arzt Hermann Broch erklaert den beiden Frauen die Situation des Patienten Hermann Broch. Dieser Text ist der Sieg Sándor Ferenczis und jedes Analytikers und analytischen Schule, die (mit der Tagebuch-Methode oder anders) den Kranken auch in den Heilungsprozess einbinden wollten. Dieser Text zeigt einen Autor, der sein Leben und seine Neurosen artikulieren kann und dadurch von der Neurose befreit ist.
GEGEN DAS LANDEN IN EINER NORMALWISSENSCHAFT
Die Vereinigung der grossen Wissensgebiete ist zum Teil gewiss eine spezifische Eigenschaft Brochs, denn wir wissen es auch, dass er auch in jedem anderen Zusammenhang ebenfalls so verfaehrt, eigentlich setzt er diesen Ansatz auch noch in seiner dichterischen Arbeit.
Diese Situation aktualisiert verschiedene Dimensionen der Wissensschaftslogik. Auf der einen Seite bedeutet der Gegenstand des Verhaltens der Massen eine evidente und nicht hinterfragbare Interdisziplinaritaet. Auf der anderen Seite will auch die Beschaeftigung mit diesem Gegenstand zu einer selbstaendigen und anerkannten Wissenschaft werden, die eben als nunmehr eine „Normalwissenschaft” darin interessiert ist, ein genau eingegrenztes Arbeitsgebiet, eindeutige Grundbegriffe und eigene Methodologie aufzuweisen. So sehr wir diese Spannung auch verstehen, wird es doch schnell klar, dass die neue Disziplin durch diesen doppelten Ansatz eher Schaden erleidet, die bei Broch eben nicht auftreten.
Broch war sich dessen voll bewusst, dass so ein Unternehmen wie die Erforschung und die Reflexion der Seele der Massen ein Gebiet ist, das weder gegenstaendlich noch logisch ganz eingegrenzt werden kann. Zunaechst deshalb, weil der jeweilige Zustand der konkreten Psychologie einer Masse von so vielen und zum Teil unbekannten und unerkennbaren Momenten zusammengesetzt wird, dass keine Wissenschaft denken kann, sie besitzt auch nur die relevantesten aus diesen Elementen und Komponenten. Andererseits aber ist der Seelenzustand der Massen imm er in Bewegung, sie ist dynamisch, was auch heisst, dass ein aktueller Zustand nicht einmal aus seiner Vorgeschichte, geschweige denn aufgrund der Analyse der bisherigen Erfahrungen möglich ist. So wird es nicht möglich, auch aus den bisherigen Erfahrungen ein Muster aufzustellen, das sich auf die gegenwaertige oder die zukünftige Prozesse anwenden liesse. Der Ausnahmecharakter des Gegenstandes ruft den Ausnahmecharakter der betreffenden Wissenschaft hervor.
Vergegenwaertigt man sich diesen nunmehr doppelten Ausnahmecharakter dieses Gebiets, so wird es beinahe verstaendlich, dass die Wissenschaftler auf diesem Gebiet danach streben, aus diesem Gebiet so schnell wie möglich eine „Normalwissenschaft” herzustellen, in der solche besondere Probleme nicht mehr möglich seien. Es kann nicht anders sein, dass so ein Streben angesichts der bedrohlichen Komplexitaet des Gegenstandes sich auf die grösstmögliche Verengung der Untersuchung richtet, schon deshalb, weil das Muster und Ideal der Normalwissenschaft gerade dieses Verfahren vorschreibt. Man kann diesen Weg gehen und dabei auch die besondere Natur des Verhaltens der Masse(n) auch noch anerkennen. Es aendert aber an der fundamentalen Differenz zwischen extremer Komplexitaet und der von der Berufsidentitaet diktierten Vereinfachungen kein Jota.
Wenn man dieser Metapher nachforscht, kann kann man leicht der Ansicht sein, dass die ganze Disziplin Massenpsychologie aus lauter Vereinfachungen und Abkürzungen besteht. Le Bon charakterisiert das Verhalten der Massen etwa in der Gestalt eines Vulkans, der stets auszubrechen imstande ist. Eine andere Art der Vereinfachung erscheint bei Sigmund Freud selber, der die bereits voll durchorganisierten Massen (wie die Armee) zum Gegenstand seiner Forschung waehlt. So legitim zum Teil diese Wahl auch ist, erscheint eben das Verhalten der nicht-organisierten Massen als legitimer Gegenstand dieser Disziplin. Durchaus interessant ist unter diesem Aspekt der Fall Elias Canetti’s. Wegen seiner Einsicht in die unendliche Komplexitaet der interdisziplinaeren Reflexionen (und seines ungestümen Originalitaetsdranges) faellt er in einen Zustand der vollkommenen Reflexionslosigkeit um, womit – und das betrifft weder die Konzeption noch die Qualitaet seiner Disziplin – die Masse sich in eine Entitaet mit eigenen Gesetzen verwandelt, die ihren eigenen Gesetzen gemaess funktioniert, selber unbewusst, aber nicht zufaellig, potenziert unbewusst aber für jene Akteure, die in ihr sich bewegen. Dieser grundlegende Trend kann Hermann Brochs Unternehmen in ein würdiges und adaequates Licht stellen, der die Massenpsychologie als gemeinsamen Schnitt von drei gewaltigen Wissensgebieten stellt, die selber aus mehreren Wissensgebieten konstituiert sind und welcher Schnitt auch noch der Literatur, der Belletristik also noch vollkommen offen ist.
Das erste von Broch in die Massenpsychologie integrierte umfassende Wissensgebiet ist die Modernisationstheorie (hinter welcher die Konturen der Geschichtsphilosophie, der historischen Soziologie, der Wertphilosophie oder der Wirtschaftsgeschichte auch aufscheinen). Das zweite umfassende Gebiet ist eine Geschichte des Denkens (in ihren vielfachen theoretischen Errungenschaften, die in der neuen Disziplin heuristisch unerlaesslich werden können). Das dritte umfassende Gebiet ist die im engeren Sinne genommene Psychologie im Prinzip in allen ihren Paradigmen.
Die Prioritaet der Modernisationstheorie ist dabei unbezweifelbar. Dieses Gebiet, das ja selber schon eine grosse Anzahl anderer Wissensgebiete integriert, weist mit gewisser Notwendigkeit dem Psychologischen seinen systematischen Ort zu. Diese Tatsache ist an sich auch schon ein Paradoxon, denn wir würden mit relativem Selbstbewusstsein aussagen, dass eine Massenpsychologie doch einen rein psychologischen Ausgangspunkt haben müsste. In der Tat verfahren mehrere Massenpsychologien so.
Der scheinbar so selbstverstaendliche psychologische Ausgangspunkt erweist sich in Wirklichkeit als partiell, als nicht ausreichend, manchmal sogar willkürlich, und was hier am wichtigsten scheint, kann er aus eigener Kraft den Widerspruch des gleichzeitig zufaelligen und notwendigen Charakter der massenpsychologischen Prozesse nicht auflösen.
Die umfassende und engagierte Einsicht in die Modernisationsproblematik (mitsamt den sie interpretierenden weiteren ideengeschichtlichen und philosophischen Momenten) selektiert die für ihn relevanten psychologischen Inhalte geradezu aus. Dies schafft eine unerwartete Naehe zwischen diesen beiden Disziplinen aus, die ansonsten nicht so sehr in der unmittelbaren Naehe voneinander aufscheinen. Diese Naehe (bei der beibehaltenen Differenz der beiden Gebiete) kann das uralte Dilemma der Massen(Sozial)psychologie in einen neuen Rahmen stellen. Dieser breitere Rahmen, in welchem die Modernisationstheorie ihren selbstverstaendlichen und evidenten Platz hat, kann sehr wohl beleuchten, welche Bedingungen von dieser Richtung für die Entstehung der modernen Massenpsychologie von Relevanz sind. Es wirkt aber auch zurück: Auch hier generierte Momente der Massenpsychologie können zu einer ausgepraegten Modernisationstheorie beitragen.
Brochs Analyse baut die Rekonstruktion des umfassenden Phaenomens der neuen Vermassung nicht auf eine, sondern auch zwei Kausalgruppe(n) zurück. Die eine Kausalgruppe kann unter keinen Umstaenden als neu aufgefasst werden, es ist die wohl bekannte Begleiterscheinung der umfassenden Modernisation selber, als welche Massen ergreift, wenn Prozesse der Modernisation zum Stillstand gebracht, aufgehalten oder gar vereitelt werden und die mit der Modernisation am engsten verbundenen Prozesse der Individuation ebenfalls gestoppt, vereitelt oder gar auf falsche Bahnen gelenkt werden. Diese Dimension der Vermassung betrifft Menschen, die zum Teil schon erfolgreich den Individuationsprozess hinter sich legten, in dem Scheitern der weiteren Modernisation aber neuen unerwarteten Herausforderungen ausgesetzt werden.
Broch bezieht jedoch in diese Rekonstruktion auch die Dimension der Veraenderung der durch die Modernisation und Industrialisation in die Grossstadt gekommenen Massen, die ihre ursprünglichen Werte gerade in der Richtung der dynamischen Modernisation aufzugeben im Begriffe sind als die Modernisation gerade anfaengt, sich zu relativieren und im Sozialen zu zerfallen. Es ist wieder ein unkonventioneller und gleichzeitig genialer Zug in Brochs einmaliger Denkfaehigkeit. Denn dieser Schnitt des Gesamtprozesses ist mehr als ein Gemeinplatz, das Aufgehen der Menschen der ehemaligen bauerlichen Welt in die neue Grossstadtkultur scheint so trivial zu sein, dass man sich kaum ausführlich mehr damit auseinandersetzt. Gesetzt noch dazu, dass die extreme Rechte mit Vorliebe auf jede Artikulation scharf reagiert, in der das Wort „Heimat” überhaupt vorkommt, was einfach damit gleichbedeutend ist, dass dadurch ein weiteres Eruieren der ehemaligen bauerlichen Welt in der Grossstadt deutlich politisch belastet wird. Bei dieser Belastung vergisst man – und das müssen wir hinzufügen, um Brochs Strategie historisch aber auch systematisch ins rechte Licht zu rücken – dass es auch eine kurze Periode gab, als die Grossstadtmassen unter rechtsextremistische Beeinflussung kamen und ihr gegenübergestellt ein linker und humanistischer Populismus wie etwa bei Ignacio Silone und anderen Autoren aufkam. Dieser politische Augenblick liess also kurz auch in eine andere Dimension dieser Problematik gewaehren – nicht die „modernisierten” Grossstadtmassen vertraten dann die höheren Werte, sondern die aufgrund ihrer eigenen Wurzeln wachsenden wertschöpfenden Bauer in zahlreichen Laender des damaligen Europa. In diesem Zusammenhang kommen Massenpsychologie und Politik wieder unter einem neuen Aspekt zueinander.
Beim Aufbau dieses sehr vielschichtigen Paradigmas einer Psychologie der Massen werden gewisse spezifische Eigenschaften des Denkers und Methodologen Brochs auch sichtbar, wobei man auch gleich sagen muss, dass er selber keine chinesischen Mauern zwischen Denken/Methodologie und (schöner) Literatur aufzieht. Dadurch entstehen ganz einmalige Situationen und Wechselwirkungen. Man dürfte natürlich nicht sagen, dass in Brochs Romanen (etwa in der durch gelebte Massenpsychologie dicht durchgezogenen Schlafwandler-Trilogie) die massenpsychologische und die dichterische Methodik voll zusammenfallen. Man würde es mit Recht für eine Absurditaet halten. Würde man aber von der anderen Ecke ausgehen und etwa gewisse massenpsychologische Denkfiguren oder konkrete Inhalte hervorheben, so ist es mit grosser Sicherheit zu sagen, dass man es nach einer gründlichen Definition ohne grössere Schwierigkeiten aus diesem oder jenem Roman von Hermann Broch auch wieder nachweisen könnte.
Innerhalb dessen verfaehrt Broch auch noch vielfach anders als theoretisierende Schriftseller oder gar Wissenschaftler selber. Dieses Verfahren ist, dass er einen einmal herausgestellten Begriff nicht allein und nicht ausschliesslich auf die hier in Frage kommende Empirie richtet, sondern so einen Begriff auch in weitere horizontale, aber – was noch erstaunlicher und vielleicht sogar auch kreativer ist –auch auf der vertikalen Linie „nach oben”. Dadurch entsteht ein Feuerwerk jetzt im besten Sinne des Wortes, in welchem die Bearbeitung einer gewissen gegenstaendlichen Sphaere im Kraftfeld von stets wechselnden Begriffen vielschichtig und multiperspektivisch aufgearbeitet wird.
Dieses Verfahren, die leitenden Begriffe nie reduktiv auf andere zurückzuführen, sondern sie immer mit anderen, neuen Begriffen zu konfrontieren, oft sogar sie „nach oben” auszudehnen, führt oft dazu, dass waehrend der betreffende Gedankengang nach vorne laeuft, dieser bald in eine andere, breitere Theorie aufgenommen wird, wie es in diesem Fall auch geschieht, die Massenpsychologie erscheint in einem immer breiteren, konzentrischen Kreis, in dem die einzelnen sozialwissenschaftlichen Ansaetze im Laufe der Brochschen Metamorphose als zusammenhaengende Teile einer Geschichtstheorie erscheinen.[72]
Das Allgemeine in diesem Verfahren zeigt viele weitere relevante Aspekte. Das Vermeiden des Reduktionismus kann um so verstaendlicher sein, weil dieser vor allem auf jene fachwissenschaftliche Einstellung zurückzuführen ist, mit welcher professionelle Fachwissenschaftlicher sich mehr oder weniger notgedrungen sich mit diesen Reduktionismen legitimieren müssen. Obwohl Broch es sich kaum wirklich leisten könnte (ob er es sich heute leisten kann, bleibt eine Frage), kümmert er sich mit diesem Zwang nicht, seine Integrationsversuche „nach oben” naehern Wissenschaft wieder zur Philosophie, überhaupt ist es eine Art „Dialektik der Wissenschaft”, die sogar auf ihre Weise in der Richtung einer Einheitswissenschaft neuer Art hinweist.Unter anderen Bestimmungen verspricht eine interessante heuristische Möglichkeit, dass es eine „offene” Einheitswissenschaft von philosophier Art sein dürfte.
Dieses Paradigmensystem der Brochschen Massenpsychologie (als offene Einheitswissenschaft) steht in merkwürdigem Gegensatz zu dem stets etwas zufaellig bleibenden und keineswegs „festen” Gegenstand dieser Disziplin. Hinter diesem Gegenstand erblicken wir wohl den wahren Grund dieses Aufbaus von seiten Brochs. Seine offene und eher nach oben als nach unten sich bewegende Begründung scheint eine adaequate Antwort auf jene Herausforderung zu sein, die von der Diskrepanz der wissenschaftstheoretischen Notwendigkeit der Begründung und des ausserordentlichem Freiheitsgrad des Gegenstandes besteht. Mit diesem Freiheitsgrad setzen sich die meisten klassischen Autoren auf durchaus unterschiedliche Weisen auseinander. Auf der einen Seite arbeitet Le Bon mit einer Psyche der Gesellschaft, die von Zeit zu Zeit etwas anders wird, waehrend Canetti die jeweilige Bewegung der Masse als so eigengesetzlich hinstellt, dass die eigentlichen psychologischen Qualitaeten (mitsamt ihrer Funktionen) eigentlich irrelevant werden.
Wir gehen naemlich kaum fehl, wenn wir annehmen, dass es keinen einzigen Massenpsychologen bis jetzt gab (sei er auch ursprünglich medizinisch, psychisch, politisch oder literarisch orientiert), der die klassische Frage des freien Willens des Menschen im Kontext und an der Spitze der Auseinandersetzung mit der Psychologie der Massen behandelt haette. Theoretisch und prinzipiell waere diese Frage stets zu thematisieren gewesen, die Grundphaenomene, die das Massenverhalten in der Jahrzehnten der Moderne gestalteten, waren aber von der selbstaendigen und reinen Sphaere der Individuen schon von Anfang an so getrennt, dass es nur dem „Philosophen” Broch haette einfallen können. Deutlich dramatischer wird die Problematik des Ausganges, wenn man an den sogenannten Daemmerzustand denkt, der ja – so oder so- in Brochs Anthropologie eine condition humaine ist.
Unter diesem Aspekt erscheint die Stellung der Frage nach der Freiheit des Willens nicht mehr von dem Massenverhalten so sehr entfernt zu sein. Sein vielfacettiertes Interesse mag seine Beruhigung darin finden, dass der freie Wille (in seiner Interpretation) nicht bewiesen werden kann, allerdings ist es auch mit dem Mangel desselben der Fall.
DER WIRKLICHE MENSCH UND DER POLYHISTORISCHE ROMAN
Die spezifisch menschliche condition humaine nimmt hier ihren Anfang. Der Mensch ist ein Wesen, der gezwungen ist, Antinomien zu überbrücken. Die eine und grösste ist, dass er von seinem freien Willen überzeugt ist, waehrend dieser weder für ihn, noch für andere nicht bewiesen werden kann.
Broch geht nicht einfach von einem wie immer auch gearteten allgemeinen antinomischen Charakter des Menschen aus, er fasst ihn sehr eigenartig und wieder ganz originell. Der Mensch will einen freien Willen haben, ist auf ihn eingestellt, waehrend dessen Existenz ihm gleichzeitig auch immer ein Problem und nie vollstaendig bestaetigt bleibt. Versucht man diese Beschreibung auch noch in der Richtung eines theoretischen und eines praktischen Ansatzes wieder zu dividieren, so wird es schnell klar, dass die praktische Dimension dieser Einsicht die weitaus wichtigere ist.
Die staendige Unsicherheit des freien Willens in der Praxis macht den Menschen zu einem Suchenden, der auch Gott braucht, allerdings weder mit noch ohne Gott kann es so viel heissen, dass der freie Wille ein von Anfang an bestimmter und den Menschen eindeutig lenkender sein sollte. Dies schafft einen Raum, in dem Freiheit und Determinismus im Medium eines permanenten spekulativen Nachdenkens aufeinander treffen. Philosophie, Theologie und Reflexion fallen fast ganz zusammen. Psychologisch gewinnt Broch hier ganz entscheidende heuristische Positionen. Der existierende
freie Wille, an dem man doch nicht mit voller Überzeugung glauben kann, übt eine ganz konkrete determinierende Funktion aus. Ganz erstaunlich ergibt sich an dieser Stelle auch der Schatten der Praedestinationstheologie Calvins.
Denn die in der Schwebe bleibende Unsicherheit veraendert die menschliche Aktivitaet, verleiht der menschlichen Praxis ihre Richtung und Dynamik. Noch viel deutlicher wird es ersichtlich, wenn man den Zusammenhang umkehrt. Waeren wir des freien Willens ganz überzeugt gewiss, so waere es unvermeidlich gleich mit einer konkreten positiven Determination identisch. Die feste Überzeugung vom freien Willen würde somit unvermeidlich auch als eine konkrete Vorschrift funktionieren, der einmal festgesetzte freie Wille würde in einem konkreten sozialen und ethischen Rahmen wie von allein feste Konturen aufnehmen. So bleibt der Mensch auch ein Wesen, das Gott auch weiterhin braucht, Gott sorgt für eine gewisse Art der menschlichen Freiheit, der Mensch ist zwar ein chaotisches Wesen, gerade wegen seiner Freiheit braucht er aber eine vitale Beziehung zu Gott.
Zwischen Freiheit und Freiheit bleibt so auch eine Differenz. Die von der göttlichen aura umgebene Freiheit unterscheidet sich von allen Freiheiten, die einen lebendigen Gottesbezug (irgendwelcher Art) nicht mehr aufweisen können.
Es ist alles andere, als eine philosophische oder als eine rein doktrinale Frage. Hinter dieser Gebundenheit an Gott (meine sie eben, was man aktuell denkt) steht für einen bestimmenden und erstaunlich selten thematisierten sehr tiefen universalen Zusammenhang. Denn wirkliche Freiheit involviert eigentlich eine existierende und eine anerkannte Ordnung der Weltbegebenheiten, d.h. Freiheit geht eigentlich immer mit Ordnung zusammen. Neben Broch war in dieser Hinsicht der ungarische Dichter und Denker Attila József von hervorragend scharfer Sicht. Uns ist, dass dieser Zusammenhang von universaler Tragweite ist, auch wenn wir auch es verstehen müssen, warum die aufeinander folgenden neuzeitlichen Variationen des Freiheitsbegriffs es stets damit anfangen mussten, dass sie sich gegen grosse Ordnungskonzepte profilierten.
Damit verliessen wir provisorisch auch schon das Gebiet der Massenpsychologie und bewegen uns im Bereich der Anthropologie und (wie bei Broch es immer geschieht) der Geschichtsphilosophie. Wir sind aber praktisch auch vom Literarischen kein Jota weiter gegangen. Hier kann man Brochs literarische und dichterische Kreativitaet auch wieder von einer tieferen Ebene aus wahrnehmen. Denn Broch hesitiert nicht und macht seine starke neue Hypothese (vielleicht Intuition) von dieser Relation von Ordnung und Freiheit zur wahren Grundlage seiner ganzen Trilogie! So kann man Broch wieder beim Wort nehmen – der polyhistorische Roman soll „erkenntnistheoretische” (und nicht psychologische) Grundhaltungen zum Gegenstand seiner Darstellung nehmen!
Von dieser neuen Grundlage aus eröffnet Broch eine Attacke im allgemeinen gegen die bisherigen Geschichtstheorien. Es geht nicht gegen das Prinzip der Theoriebildung in der Geschichte, auch nicht gegen das Prinzip des freien Willens.
Der Vorwurf ist, dass die theoretischen Betrachtungen der Geschichte nicht den wirklichen Menschen zum Ausgangspunkt genommen haben. Das Problem ist nicht die (gewollte oder ungewollte) Ausschaltung des Menschen aus der Interpretation der Geschichte und die daraus folgende Konsequenz, dass dieses Theoretisieren den Menschen notgedrungen als einen „schlafwandelnen” hingestellt hat. Broch akzentuiert sehr deutlich, dass man anstatt dessen von der wirklichen Natur des Menschen haette ausgehen müssen, die in der Tat das Schlafwandeln ist! Zwischen den beiden Arten des Schafwandelns spannt sich also der Widerspruch, die eine Art ist eine negative Bestimmung, ein Fehlen der positiven Beschreibungen, waehrend die andere eine „positive” condition humaine des Schlafwandelns ist, das in seinem Daemmerzustand die menschliche (philosophische) Freiheit nicht aufhebt, sie jedenfalls aber unwesentlich aufscheinen laesst. Waehrend die menschliche Freiheit im Sinne des philosophisch verstandenen freien Willens bei ihm nicht zurückgenommen wird, wird die tatsaechliche Existenzweise des Menschen im breiten Schicht des Schlafwandelns identifiziert.
Das Schlafwandeln ist in sich ein Medium, beinahe ironisch, dass es auch in anderen Zusammenhaengen ein Medium ist. In Vordergrund kommt das wirkliche menschliche Verhalten, das Alltagsdenkens (mit seiner Soziologie und schon bei Broch und schon in den Romanen inkludierten Wissenssoziologie), falsches und richtiges Bewusstsein vermischen sich und eine neue Vision der Geschichte, die durch das Schlafwandeln hindurchzieht und durch welche das Schlafwandeln ebenso hindurchzieht. Ein Hegelismus des Schlafwandelns, wo die einzelnen Stationen des Geistes nicht mehr die reflektierten Formationen der objektivierten Gedanken, sondern die Formationen des Daemmerzustandes sind. Die über die Realitaet aufgestellte Fiktion ist alles andere als unwesentlich,[73] es ist vielmehr umgekehrt so, dass es jeder Fiktion eine eigene Realitaet entspricht. Denkt man über eine Realitaet produzierende Fiktion, so ist man wieder ganz im Zentrum von Brochs Massenpsychologie.
Die erstaunlich detaillierte Selbstabgrenzungen des Daemmerzustandes vom Phaenomen des Traumes oder von den entsprechenden Bewusstseinszustaenden der Tiere führen zu relevanten positiven Bestimmungen. Der Mensch des Schlafwandelns verfügt über Ich-Bewusstsein, der Mensch ist faehig, einen eigenen Daemmerzustand in jenen von anderen (auch von Tieren) hineinzuprojizieren. Gerade im staendigen Vergleich zu Freud waechst die Bedeutung der Einstellung, dass der Daemmerzustand weder als „bewusst” noch als „unbewusst” eingestuft werden kann.
Bei der Analyse des anthropologisch immer relevanter werdenden Daemmerzustandes vergisst es Broch aber auch nicht, das Symbol seiner Interpretation der „Erkenntnis”, d.h. die Prometheische Natur des Menschen auch im Medium dieses Daemmerzustandes neu zu situieren.
Die betonte und als solche mit dem Tierverhalten vergleichende Verhaltensinvarianz würde hier den Daemmerzustand vertreten, waehrend die Prometheischen Funken gerade diese Invarianz durchbrechen. Die Zweiheit zwischen Daemmerzustand und Prometheischer Natur reproduziert sich wieder bei der Brochschen Analyse des Spieles. Der Mensch durchbricht also seine eigene Kontinuitaet, um die spezifische Funktion der Erkenntnis zu verwirklichen.
Die Nebeneinander von dem Daemmerzustand und der Prometheischen Natur leitet zu weiteren massenpsychologischen Hypothesen. Obwohl Broch diesen Begriff nicht gebraucht, kommt er zum Begriff des „Überlebens” nahe, indem er den Menschen so darstellt, dass dieser selber die stets revolutionierende Wirkung der Erkenntnis eingrenzt, die Sehnsucht nach der Normalitaet kaempft mit dem inneren Zwang der emanzipativen Erkenntnis, das Funktionieren kaempft mit den Werten, die Invarianz mit den mutierenden Variationen.
Die Prometheische Natur durchbricht manchmal die breite Schicht des Mediums des Daemmerzustandes. Die quasi-ontologische Dimension des Schlafwandelns geht aber auch mit der Konsequenz zusammen, dass die Triebsublimation hier sowohl unter qualitativen wie auch unter normativen Sicht nur mangelhaft vor sich gehen kann. Positiv haengt diese Darstellung mit der Tatsache zusammen, dass bei Broch die „Erkenntnis” (mit ihrem sehr breiten und spezifisch nur für Broch charakteristischen Begriff) eine notwendige Voraussetzung der adaequeten und emanzipativen Triebbefriedigung ist. Dadurch wird aber die mehrheitlich auf dem Gebiet der Individualpsychologie einheimische Triebbefriedigung auf eine neue Weise auf die Massen übertragen.
Der Daemmerzustand verweigert die Proemetheischen Erkenntnisse und Erleuchtungen, diese aber werden im Daemmerzuzstand fehlen. Mangels der Proemetheischen Blitze wird die Zivilisation nicht erneuert, erleben die Konventionen des Lebens keine Progression, die Befriedigung der Triebe im Daemmerzustand erfolgt nur durch Zwaenge und Pressuren ohne Selbstbewusstsein. So schlaegt der scheinbar so „normale” Daemmerzustand in eine spezifische Selbstdestruktion über.[74]
Was beschrieben wird, ist ein Zustand der vollzogenen Modernisation ohne Emanzipation. Wahrscheinlich schreibt Broch der sozialen Integration der Prometheischen Impulse die Funktion des staendigen sozialen Wandels und die der Bekaempfung der mörderischen Instinkte. Die Menschheit ist in ein psychologisches Aether hineingezwungen, aus dem sie sich nicht fliehen kann. Nicht der Daemmerzustand in sich ist das Problem, er ist selber aus Ausfluss zahlreicher tiefer liegenden Motive.
Reflektiert man die eigentliche Aufgabe des polyhistorischen Romandichters (auf eine kurze Formel gebracht: Interpretation eines Ganzen bei gleichzeitigem Aufbau dieses Ganzen), so wird einsichtig, warum die unterschiedlichen Menschenbilder etwa bei Broch und bei Musil in den strategischen Entscheidungen eine so grosse Rolle spielen müssen. Einerseits sind es eben die neuen und bis lang präzedenzlosen Auffassungen von Person, Persönlichkeit und Identität, die zur notwendigen Entstehung der neuen Romanstrukturen führen. Die Interpretation eines Ganzen bei gleichzeitigem Ausbau dieses Ganzen würde aber, und das ist die andere Seite dieses Zusammenhanges, ein konventionelles Menschenbild nicht mehr ertragen. Die in die Massenpsychologie hinüberschlagende Psychologie wird zur literarischen Notwendigkeit.
Es geht in diesen Werken um einen "Weg zum Ganzen". Einer der allerersten Schritte ist dabei gleich,den exemplarischen Menschen zu bestimmen. Eine "methodische" Konstruktion, eine Ausarbeitung dieses "exemplarischen" Charakters (der Person, Persönlichkeit und Identität) ist naemlich vollkommen unentbehrlich beim Ausbau eines Ganzen. Dieses von Musil exemplarisch konstruierte Menschenbild wird fähig, die Ganzheit des Denkbaren und Erlebbaren in kritischer Reflexion aufzunehmen und zu vertreten. Das so entstehende Ganze ist selbstverständlich nie das extensiv Unendliche, aber auch nicht ein intensiv Unendliches im Sinne traditioneller Ästhetikkonzeptionen. Es geht vielmehr um eine methodisch durchgearbeitete und voll bewusste Konstruktion der Person, welche nicht (oder nicht mehr) nur den ästhetischen Schein, sondern auch die intellektuelle Realität des Ganzen auf eine inhaltlichsachlich begründete Art heraufbeschwören kann. Der als weltanschaulich-wertbezogenes, im Mannheimschen Sinne ideologisches Wesen aufgefasste Mensch wird also von Musil methodisch konstruiert gewaehlt, um das Ganze der Romanproblematik auf ihn aufbauen zu können.
In den methodischen Überlegungen und strategischen Entscheidungen steht es bei Broch auch ganz ähnlich, wiewohl die Inhalte derselben unterschiedlich sind. Sein homo chaoticus (ebenfalls eine neue und auf das Ganze gehende Konstruktion von Person, Persönlichkeit und Identität) schreibt eine andere dichterische Verfahrensweise, eine andere Werkstruktur, das heißt, einen anderen Weg zu einem anderen Ganzen vor. Brochs Mensch ist kein "leeres Blatt", sondern affektbeladener Träger einer Unzahl von vitalen und intellektuellen Möglichkeiten. Damit hängt zusammen, dass bei ihm nicht die analytische Beschreibung von wirklichen Denkprozessen, dem Denken, wie es in der Wirklichkeit praktiziert wird, sondern das Bewusstseinsstrom als die fundamentale menschliche Artikulation erscheint, in dem Rationales und Irrationales auf eine spezifisch Brochsche Art der Einheit dargestellt wird. Das hierbei Wesentliche ist nicht so sehr die reflexive Akzeptierung dieses gedanklichen Materials als eine "Anthropologie", vielmehr das wirkliche Verstehen dessen, warum Aufgabe und Ziel des polyhistorischen Romans wie automatisch die Formulierung einer eigenen, inhaltlich wie strategisch motivierten Anthropologie vorschreibt. Mangels eines ausserhalb des Werkes tätigen allgemein verbindlichen Wertsystems muss nämlich der polyhistorische Roman selber ein konkretes Menschenbild zur Geltung bringen, um seiner Aufgabe (Interpretation des Ganzen bei gleichzeitigem Ausbau desselben) überhaupt gerecht werden zu können.
Dies führte zu dem so merkwürdigen Zug des deutlich artikulierten Antipsychologismus sowohl Brochs wie auch Musils, eines Zuges, der auf den ersten Augenblick bei Autoren so erstaunend auswirken kann, die - jeder auf seine eigene Weise - so begründete und tiefe originelle psychologische Darstellung lieferte. Der Antipsychologismus richtet sich gegen die "traditionelle" Psychologie des "traditionellen"Romans. Die mehrfach artikulierte Unzufriedenheit mit der traditionellen Psychologie ist eine Konsquenz sowohl der ganzheitlichen Aufgabenstellung des polyhistorischen Romans selber wie auch der im wesentlichen außerliterarischen allgemeinen philosophischen oder quasi-philosophischen Überlegungen der beiden Autoren.
DAS SPIEL ALS MODELL DES KAMPFES UM DASEIN
In der Massenpsychologie setzt sich Hermann Broch mit dem Phaenomen des Spieles sehr vielschichtig auseinander. Es scheint, diese Analyse kann als eines der allerersten Momente werden, die seine Massenwahntheorie nunmehr auch auf die Analyse unserer Gegenwart ausdehnen könnten.
Es ist alles andere als verwunderlich, dass in unserer „Krisenzeit” (zumindest redet man seit 2007-2008 wieder über Krise, verstehe man darunter, was man genau will) auch das Interesse aufkommt, aus so reichen Konzepten wie eben Hermann Brochs Massenwahntheorie gewisse Erklaerungsmuster auch für unsere Gegenwart anzuwenden. Diese so selbstverstaendlich Frage hat eine Schwierigkeit, die es manchmal selbst denen nicht klar wird, die diese Frage stellen. Die heutige Fragestellung ist von aktuellen Momenten diktiert und will schnelle und brauchbare Antworten bekommen. Aus so komplexen und vielschichtigen Materialien wie es eben diese Massenpsychologie ist, ist es eben unmöglich, solche kurz reagierende Antworten zu generieren, so geschieht es oft, dass man bei aller Schaetzung Brochs diese Intention wieder schnell aufgibt. Das Phaenomen des Spieles würde vielleicht eine Ausnahme in diesem Trend aufzeigen.
Das Spiel als die Essenz des sozialen Seins, als Paradigma des menschlichen Lebens, als wahres Gesicht der Existenz bestimmt auch heute das soziale Leben.
Das Spiel, das als Ausdruck der Gesamtheit und der Essenz des sozialen Seins erscheint, hat vor Broch schon auch die Aufmerksamkeit von Georg Simmel auf sich gezogen. Broch war sicherlich auch hier von Simmel beeinflusst und ging auch auf diesem Terrain über Simmel hinaus. Die spaetere Beurteilung von ihnen beiden, aber auch von Brochs Beziehung zu Simmel verraet auch diejenige Asymmetrie, die von der disziplinenorientierter Anschauung aus beinahe selbstverstaendlich ist. Simmel, als unumstrittener Klassiker der modernen Soziologie, ein wahrer Altsoziologe, in dessen Anschauung noch auch die spezifische Produktivitaet der Philosophie mit dem konkreten und sachlichen Erkenntnisinteresse der Soziologie verbunden war, muss aus diesem Vergleich auch als Sieger hervorgehen, wenn Broch (in diesem konkreten Beispiel) das Phaenomen des Spieles nicht zuletzt auch wegen der neuen Einsichten, die nur seiner Generation und nicht derselben von Simmel schon zugaenglich waren, ein eindeutig plastischeres und differenzierteres Bild als sein Vorgaenger liefert.
Es spricht sowohl für Simmel wie auch für Broch, dass sie das Spiel-Modell keineswegs als eine Analogie oder ein vorgestelltes Modell ansehen, sondern als eine Verkörperung des sozialen Seins im Essentiellen. Bei jedem Modell-Charakter interpretieren sie das Spiel-Modell durchaus konkret. Selbstverstaendlich bildet kein Spiel das soziale Sein vollkommen ab, seine Abbild-Funktion erscheint jedoch vor beiden als essentiell, als ein mögliches „umgreifendes” Moment im Marxschen Sinne, das eventuell faehig sein kann, das Essentielle auch im Ganzen abzubilden. Es heisst aber auch, dass eine solche Auffassung des Spielphaenomens nicht aus der Gesellschaft heraus-, sondern ganz im Gegenteil, in die Gesellschaft hineinführt.
Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet Simmel das Spiel als „Modell der Vergesellschaftung”, er ist der erste Soziologie, der den grossen Fortschritt in der Interpretation macht. Die Differenz zwischen seiner und Brochs Auffassung ist jedoch keine rein wissenschaftliche oder methodische. Das Spiel gilt für Simmel im buchstaeblichen Sinne als wahre Modell der wahren Vergesellschaftung (sowohl im analogischen und übertragenen Sinne, wonach soziale Relationen und Regeln werden durch das Spiel vorgeführt und eingeübt, wie auch im metaphorisch-verallgemeinernden Sinne, wonach ist die Kehrseite des ganzen sozialen Verkehrs eine Art des Spiels ist, aber nur die „Kehrseite” dieser Realitaet). Von Simmel steht aber noch die Evidenz fern, und das ist die wahre historische Differenz zwischen ihm und Broch, die ja schon auch eine historische Differenz ist, dass er im Spiel auch das Modell des sozialen Kampfes ums Dasein und auch umgekehrt, im sozialen Kampf ums Dasein ein Phaenomen wie das Spiel erblicke.
Bei Simmel erscheinen die Regeln des sozialen Verkehrs, bzw. der Kommunikation als spielartige Komplexe. Letztlich will er durch das Spielmodell die Konstitution der Gesellschaft, die ja bei allen Generationen, sogar bei allen Einzelnen wiederholt wird, oder wie er es selbst oft sagt, ein Modell der Vergesellschaftung ergreifen. Es ist noch nicht, was es bei Broch schon ist, ein zentrales Modell des gesellschaftlichen Seins, und zwar ein dynamisches, welches sowohl das Individuum wie auch die einzelnen Gruppen in sich aufnimmt und in seiner Dynamik integriert. Bei Simmel ist relatív, was bei Broch in gewissen Kontexten absolut wird.
Simmel beschreibt Vergesellschaftigung im Spannungsfeld zwischen Leben (Interessen, Inhalte, Dynamik, etc.) und Formen. Sein Übergangscharakter zwischen Philosophie und Soziologie zeigt sich in dieser quasi-ontologischen Begründung. Ihre Relevanz besteht in dem einmaligen wissenschaftsgeschichtlichen Augenblick. Im spaeteren erfolgt es naemlich so, dass wenn sich die Philosophie mit der Gesellschaft befasst, gebraucht sie die Ergebnisse der Soziologie meistens als Illustrationen und Belege, waehrend die zum Paradigma gewordene Soziologie meistens sehr schnell auf jegliche Philosophie verzichtet, um ihre eigenen Begründung in Theorien mittleren Allgemeinheitsgrades zu finden, die ihre empirische Arbeit gut oder schlecht untermauern können. Bei Simmel erscheint jedoch der philosophische Ausgangspunkt und die soziologische Konsequenz sozusagen als ein einheitlicher Akt.
So wird es ersichtlich, dass das Spiel gerade als die die „Form” und dadurch die „Gesellschaft” konstituierende Komponente aufgefasst wird. Das Problem, ob diese „Formen” in Hinsicht auf das „Leben” bereits selber Entfremdungsmomente in sich tragen, wird bei Simmel auch schon gestellt.
Wir werden sehen: Brochs Konzeption über das Spiel hat zwei neue Schwerpunkte Simmel gegenüber. Erstens definiert er diese „Form” schon auch als „Inhalt”, und zwar als „Kampf ums Dasein”. Zweitens erblickt er im Spiel nicht mehr eine objektive und wertneutrale Form der Vergesellschaftung, sondern auch als eine deutlich verzerrte und negative Form derselben.
Bei Broch geht es also nicht mehr um Vergesellschaftung, sondern um eines der allerzentralsten Momente, um den Kampf ums Dasein. Um die ganze Tragweite und die nicht nur psychologische, sondern auch die klare philosophische Bedeutung dieses Ansatzes zu verstehen, muss man den meisterhaft und sehr komplex aufgebauten intellektuellen Hintergrund und begrifflichen Rahmen der Thematisierung verstehen, es geht um einen thematischen Rahmen, der gerade in diesem Aufbau eine Entdeckung von Broch ist.
Broch untersucht den Gegenstand im Zusammenhang einer doppelt definierten und bestimmten Anthropologie, sozusagen eines verdoppelten intellektuellen Kraftfeldes.
Menschliches (soziales, intellektuelles) Handeln laesst sich demnach bei Broch im wesentlichen nur in dieser zweifachen Bestimmtheit vorstellen. Jede menschliche Handlung muss in jedem Akt gleichzeitig zwei Kriterien entsprechen, sie muss „Erkenntnis” vertreten und ausdehnen, sowie sie muss auch eine optimale Praxis der „Triebbefriedigung” realisieren.
Was die Triebbefriedigung anbelangt, so können wir in ihr ohne Schwierigkeiten eine im gebildeten intellektuellen Diskurs gebrauchte Version der Psychoanalyse erkennen. Dieser Gebrauch ist sich der Regeln der Begriffe der Freudschen Lehre im klaren, ohne im einzelnen diese Begriffe auch weiterhin vertiefen oder modifizieren zu wollen. Es ist ein problemloser Gebrauch, eine spezifische Anwendung der Psychoanalyse, was überhaupt nicht die Begrenztheit seiner Kenntnisse, vielmehr einen Gebrauch als intellektueller Muttersprache nahe legt. Gründliche Kenner von Brochs anderen Texten haben natürlich auch die Gelegenheit, die zahlreichen anderen Perspektiven von Brochs profunden Kenntnissen über die Psychoanalyse zu dieser Anwendung hinzuzuassoziieren.
Was den anderen hier angewendeten Schlüsselbegriff Brochs anlangt, so hat er schon einen eher für Broch charakteristische Nebenbedeutung. „Erkenntnis” ist für Broch (mit der notwendigen Vereinfachung gesagt) zunaechst die praktizierte Taetigkeit des Erkennens selbst, dann bezeichnet er auch eine klare, auf die primaere kognitíve Aktivitaet aufgebaute ethisch-moralische Dimension, um dann als drittes Element auch eine komplexe Einheit dieser beiden Dimensionen (Kognition, Ethik) auch noch eine anthropologische Bedeutung aufzuweisen, die mit der Authentizitaet und der emanzipativen Identitaet des Menschen identisch gesetzt werden kann.
So entsteht aus der Einheit dieser beiden Begriffe eine philosophisch-anthropologisch zu nennende eigene Innovation. Es geht um eine durchschlagende Innovation, die vom Augenblick ihrer Geburt an schon auch als Normativum jeglicher Wirklichkeit entgegengesetzt werden kann.
Erkenntnis und Triebbefriedigung als Phaenomene, aber auch als Begriffe machen eine geheimnisvolle und vollstaendige Beziehung zueinander aus. Mit der für Brochs charakteristischen Grosszügigkeit wird eine verdeckte Realitaet aufgedeckt – die Einheit dieser beiden menschlichen Grundbefindlichkeiten ergibt ein Optimum. Diese Einheit ist Anfang und Ende menschlichen Lebens in der Gesellschaft. Universale Hintergrundbedingung, indem bei Broch die adaequat gesprochene Sprache (nunmehr wie Selbstverstaendlichkeit!) der Psychoanalyse nicht (mehr, wie damals so oft und selbstverstaendlich) mit dem Marxismus, sondern einem an Nietzsche erinnernden Emanzipationsgedanken vereint wird. Diese Einheit wird zur gleichen Zeit Axiom, ohne sie kann menschliche Seele im sozialen Raum nicht glücklich sein, und es versteht sich auch von selbst, dass das Nichterreichen dieses Zustandes nicht ein gleichgültiges Hinleben, vielmehr Gefahr und Ausgeliefertsein bedeutet.
Als Axiom strahlt diese Einheit dieser beiden Realitaeten (stetes Erkennen, reale und emanzipative Triebbefriedigung) schon eine eindeutige normative Kraft aus. Diese Einheit ist Kriterium jeglichen Glücks im sozialen Sein.
Auch weitere Verdienste dieser von Broch inaugurierten Doppelbedingung liessen sich noch lange fortsetzen, es sollte beispielsweise kraftvoll unterstrichen werden, dass diese Vereinigung selbt eine bestimmte Struktur aufweist, und zwar eine dynamische, deren praktische Konkretisierung diejenige bestimmende Rolle spielt, dass die eine Bedingung (etwa die „Erkenntnis”) die Bedingungen für die Beschaffenheit der anderen (etwa der „Triebbefriedigung”) bestimmt und umgekehrt, ihre stete Wechselwirkung schafft durchaus im Medium der wirklichen psychologischen Interaktionen das Glück des Einzelnen und auch die der Gesellschaft.
Als Kriterium und Doppelbedingung des optimalen menschlichen Lebens ist diese Gleichzeitigkeit und optimales Ineinander von Erkenntnis und Triebbefriedigung kann es demnach allein bewerkstelligen, dass der Mensch den ihn umgebenden „Daemmerzustand” nach oben durchbricht. Denn, wie schon ausgeführt, auf der anderen Seite ist gerade die Universalisierung des Daemmerzustandes die entscheidende kreative Erfindung Brochs. So ist es bei ihm im engeren Sinne des Wortes keine „normale” Normalitaet entworfen, die Grundbefindlichkeit des modernen Menschen ist ja der „Daemmerzustand”, aus dessen dichtem Medium sich der Mensch zunaechst durch die „Erkenntnis” („prometheisch”) herauskaempfen kann, um im Besitz dieser neuen Attitüde bewusst (aber immer noch auch unbewusst) seine Triebbefriedigung mit Hoffnung auf Emanzipativitaet verwirklichen zu können. Dieses ganze Komplex, erfolgreich verwirklicht (wobei das Unbewusste nie ganz ausgetilgt werden kann), wird mit jenem Prozess identisch, den man (erfolgreiche) Individuation nennt.
Brochs Analyse des Spieles ist deshalb so konstruktív, merkwürdigerwiese zu seiner Zeit in dem gleichen Masse als in unseren Tagen, weil ihm dieses Doppelkriterium des glücklichen Lebens bei der Analyse zur Verfügung steht. Das optimale Neben- und Ineinander von Erkenntnis und Triebbefriedigung wird in dem so interpretierten Spiel gleich von zwei Seiten aus „imitiiert”.
Die künstliche Spielsituation imitiert soziales Sein auf illegitime Weise. Ganz generell wird ein Ganzes „gespielt”, waehrend sich im Spiel so etwas wie eine naeher jetzt nicht zu beschreibende Triebbefriedigung ereignet. Die im imitiierenden Spiel erscheinende Gesellschaft ergibt ein Feld, auf dem die wirkliche Funktion der Erkenntnis vollkommen funktionslos wird. Jedes Spiel liefert ein Bild von dem Ganzen, realisiert und erschliesst man es waehrend des Spieles oder nicht. Dieses Bild vom Ganzen ist aber immer „fertig” und unantastbar, dass es noch dazu simplifizierend ist, versteht sich von selber. So eine Simplifizierung (sei sie an sich noch so naiv, harmlos oder positiv gemeint) ist in Brochs Augen schon in sich ein Skandal, denn sie schaltet die permanente Erkenntnis nach Regeln aus. In Brochs Augen ist es auch noch gefaehrlich, der Mangel an Erkenntnis selbst in einem Kunstwerk (!) ist Sünde oder wie Broch es des öfteren betont, Kitsch. Im Spielkontext reproduziert sich also in einer ewigen Wiederkehr von künstlichen und simplifizierend reduzierten Situationen, die für Broch schon als eine ethische Herausforderung erscheinen muss.
Auch auf dem Gebiet der Triebbefriedigung produziert der an sich wohl legitime ganzheitliche Imitationscharakter des Spieles ganz aehnliche Konsequenzen. Wie das im Spiele reproduzierte Ganze eine weitere Erkenntnis dieses Ganzen nicht ermöglicht (und nicht ermöglichen kann), wie die Grenzen der Erkenntnis waehrend des Spieles nicht ausgedehnt werden können, mit derselben Logik kann man wahrnehmen, dass dieses Spielmodell nicht eine durch die Erkenntnis vermittelte und emanzipativ gepraegte Befriedigung der Triebe hervorbringen kann, anstatt dessen befördert dieses Modell die blosse Eingrenzung, Bremsung oder Zaehmung derselben Triebimpulse. Dies heisst aber auch, ins Positive gewendet, dass der in der Erkenntnis arbeitende kognitive Fortschritt und die emanzipierte, jedoch wirkliche Befriedigung von wirklichen Trieben wie die Analogie zu einander funktionieren.
Das Spiel, so interpretiert, erscheint als ein Phaenomen, an dem die als optimal erkannte Anthropologie Schiffbruch erleidet. Im Falle beider Pole im einzelnen, aber auch im Falle ihres Zusammenspiels werden optimale Relationen und Inhalte durch ihre eigene Imitation abgelöst. Einerseits ist es trivial und kann mit vollem Recht auch zur Definition des Spieles gehören. Andererseits – und es haengt schon voll von den Spielenden ab – gilt es vielleicht als noch negativer als eine offene Kritik von optimalen Relationen und Inhalte, denn ihre Imitationsergebnisse können sehr hoch sein und all das kann zu einer Gesellschaft beitragen, wo die Imitation staerker als die Wirklichkeit und was das wirklich Schlimme ist, wo die Imitation kognitive und affektive Eigenschaften produziert, die das Optimale (in der Kognition: „Erkenntnis”, im Affektiven: „emanzipative Triebbefriedigung”) ins Imitative verwandelt und dadurch ohne Zweifel zu einer neuen Anthropologie führen kann.
Diese Auffassung des Spieles erscheint im Kontext der Grossstadtzivilisation der Moderne von holistischem Anspruch. Broch aehnelt in diesem Zusammenhang Simmel, als moderner und früher Soziologe (ein Soziologe avant le paradigm) kann er ohne weiteres vollbringen, was nach spaeteren meistens leeren ideologischen Auseinandersetzungen schon fast unmöglich scheint, er kann die vielfachen Auswirkungen der modernen Grossstadtexistenz soziologisch so thematisieren, dass er in die Falle der ideologischen Thematisierung nicht hinunterfaellt.
Hermann Brochs Auseinandersetzung mit dem Phaenomen des Spieles verdient auch deshalb ein besonderes Interesse, weil er hier aus seinem gewohnten kulturkritisch-geschichtsphilosophischem Rahmen, aus dem Diskurs des Zerfalls der Werte heraustritt – es ist auch nicht eine Ausdehnung der zentralen Einsichten. Es ist ein gegenwartsorientierter Neuanfang, in welchem seine denkerischen Faehigkeiten und in den anderen Kontexten nicht immer sichtber werdenden methodologischen Faehigkeiten leicht wahrnehmbar werden.
Auch auf diesem Gegenstandsgebiet verfaehrt er nicht nach der Art des Spezialwissenschaftlers, auch nicht so, dass er die Erfindungen und Ergebnisse anderer Forscher anwendet. Er praktiziert ein philosophisches Verfahren bei der Untersuchung eines nicht philosophischen Gegenstandes. Als Philosoph hat er aber ein „Vorwissen”, welches aber sein fundamentales Wissen ist. Die Gleichzeitigkeit von (emanzipativer) Triebbefriedigung und einem von ihm spezifizierten Begriff der Erkenntnis ist eine Einsicht, die ihn in jeder Fragestellung praegt. Die Ausgangsposition scheint auf den ersten Augenblick sogar nicht so überzeugend originell zu sein, es ist aber charakteristisch für Brochs denkerische Persönlichkeit, dass er in Sachen Originalitaet eher bescheiden aussieht, waehrend beispielsweise diese Paarung der scheinbar bereits bekannten Begriffe vielmehr eine potentierte Originalitaet ins Spiel bringen kann. Diese Originalitaet setzt sich aus zwei gedanklichen Stufen zusammen. Zunaechst werden beide Begriffe (Triebbefriedigung, Erkenntnis) bei Broch so transformiert, dass sie nicht nur schon eine spezifische Brochsche Bedeutung haben, sondern auch schon einen hervorragenden heuristischen Wert aufweisen. Die zweite Stufe ist, dass sie dann beide zusammen ein Phaenomen inhaltlich bestimmen.
Eine Konsequenz dieses Ausgangspunktes ist zum Beispiel, dass das Spiel hier nicht als Phaenomen der Massenkultur erscheint, obwohl seine Analyse durchaus deutlich mit derselben der modernen Grossstadtkultur verbunden ist.
Von der einen Seite kommt darin die nicht aufhebbare individuelle Dimension zum Ausdruck (Erkenntnis + Triebbefriedigung), andererseits aber, von der anderen Seite wird Spiel dadurch auf einen Schlag ohne jegliche Forcierung zum ökumenisch-gesamtmenschlichen Phaenomen und als solches auch schon „Philosophie”. Man könnte mit Recht sagen, dass Brochs Ausgangspunkt (mit den vorhin beschriebenen Charakteristiken) einen nicht-philosophischen zu einem philosophischen Gegenstand macht.
Der so transformierte Gegenstand (und wir müssen unterstreichen, dass es keine logische oder doktrinaere Kosequenz, sondern die selbstverstaendliche Folge des von Broch in Bewegung gebrachten erkennenden Apparats) laesst sich schon als Metapher von universalen Phaenomenen ansehen. Es ist nicht mehr ein anderer Name für „Vergesellschaftlichung” (wie bei Simmel), es ist schon eine Muster des Kampfes um Dasein.
Brochs Ausgangspunkt verwirklicht auch eine Umwertung. Sehr lehrreich, dass sie nicht primaer philosophisch-methodologisch ist, aufgrund des sehr komplexen Ansatzes, wird der Gegenstand ein anderer. Das im Netz des modernen Grossstadtlebens holistische Funktionen auf sich nehmende Spiel laesst sich nicht mehr als eine „überflüssige” „Musse” angesehen werden, langsam werden die klassischen Definitionen von Schiller und Huizinga unanwendbar, weil sie Spiel immer als Gegensatz und Reflexionsbegriff von Arbeit und Pflichterfüllung bestimmen.
Die besondere Bedeutung des Spiels in der Doppelperspektive von Triebbefriedigung und Erkenntnis signalisiert einen Funktionswandel. Welchen Begriff wir der Wirklichkeit nunmehr gegenüberstellen wollen, kann das Spiel nicht mehr zu ihnen gehören. Spiel wurde Wirklichkeit, zu einer laehmenden, aussichtslosen und selbstdestruktiv gewordenen Wirklichkeit, in der die existentielle List der griechischen Tragödie aufscheint.
Das Spiel nimmt die Grossstadtgesellschaft zum Geisel. Vorlaeufig liesse sich diese Beziehung noch weder politisch, noch soziologisch oder anderswie beschreiben. Eine eigentümliche, hybride Relation ist es, die gerade vom Spiel generiert wird. Der religiöse Kult der Fans eines Fussballklubs erheben ihr Kind glücklich hoch (das ja auch die Farben des Clubs traegt und vollkommen gut unterrichtet wird darin, wann es auch gelegentlich weinen muss) hinterlassen ihre normale Existenz und bieten der Öffentlichkeit mit vollkommener Transparenz an, dass der religiöse Kult ihre wahre und realisierte Teilnahme an einem Spiel als Weltmodell bedeutet. Spiel wird Wirklichkeit, Wirklichkeit wird Spiel, auch wenn man das klare Verhaeltnis der beiden noch nicht ganz genau beschreiben kann, ist die inkommensurable neue Qualitaet dieses Ineinanders eindeutig. Diese Szene ist eine konkrete Episode aus einem grossen Narratívum, das „Spiel als Weltmodell” heisst.
Und hier kommen wir zu der vielleicht virtuosesten Seite dieser Analyse. Denn es ist nur die eine Seite, dass Broch durch seine Ausarbeitung der neuen Semantik der beiden Begriffe im einzelnen (Erkenntnis + Triebbefriedigung) zu einem Instrument kommt, das wie keines zuvor eine Weltsituation zu beschreiben faehig wird. Broch waere aber nicht Broch, d.h. er waere nicht ein Moralist, der von einer universalen Verantwortung für das Menschenschicksal geleitet wird, wenn nicht gleich auch die Imitationsfunktion des Spiels nicht beschreiben würde, und durch diese Beschreibung auch nicht gleich schon auch auf die Gefahren hinweisen würde, die durch diese Imitation von (realer) Erkenntnis und (realer) Triebbefriedigung mit aller Entschlossenheit hindeuten wollte. Mit anderen Worten, die positive Ausarbeitung eines Instrumentariums, das dieses Phaenomen beschreiben kann, ist die eine Sache, das perfekte Aufweisen der universalen Gefahren der imitativen Handlung ist die andere.
Auf den ersten Augenblick scheint naemlich das so interpretierte Spiel eine Öffnung, eine Integration zu sein. Im Spiel kann jeder erleben, wie man erkennt und wie die Triebe befriedigt werden. Die aufnehmende Öffnung erweist sich aber in Brochs Analyse als ausschliessendes Hindernis. Wer sich aufgenommen gefühlt hat,. wird ausgeschlossen.
Das Spiel imitiert die wahre Realitaet in beiden Hinsichten.
Auf der Seite der Erkenntnis bewegt sich das Spiel in stets wiederkehrenden geschlossenen Kombinationen, waehrend die offenen Kombinationsmöglichkeiten, ihre Herausforderung, ihr vorher nicht feststellbares Versprechen imitieren die neuartige Begegnung der Erkenntnis mit der Wirklichkeit, wie die wirkliche Erkenntnis mit der „wirklichen” Wirklichkeit es hat. Wir wollen selbstverstaendlich nicht sagen, dass das Spiel die Rolle der Erkenntnis unmittelbar übernehmen sollte, darüber ganz zu schweigen, dass nicht das Spiel schuld daran ist, wenn die Gesellschaft ihre imitiierenden Kombinationen anstatt der Wirklichkeit waehlt.
Ein doppelter Rollen- und Funktionswechsel spielt sich ab. Anfangs ist es das Spiel, das die Wirklichkeit ganzheitlich abbildet. Im Falle etwa des Fussballs kann dieser Wechsel üb erhaupt nicht als erfolglos angesehen werden. Der Einzelne und das Wettbewerb, der einzelne und die Gruppe, Sieg und Niederlage, Leistung und Anerkennung, etc. werden in diesem Spiel durchaus reich abgebildet. Diesem Wechsel folgt aber der von Simmel und Broch bereits thematisierte zweite Funktionswandel. Das Spiel schlaegt zurück. Die Wirklichkeit der Imitation faengt an, Funktionen der „wahren” Realitaet zu imitieren und es wird zu dieser hybriden Situation führen, in welcher es scheinbar gelingt, das Spiel zur Realitaet auszudehnen und damit die Spielenden in eine breitere Realitaet zu integrieren und gleichzeitig diese Erweiterung auch eine Verengung, diese Integration als eine Ausschliessung erweist.
Auf der Seite der Triebbefriedigung vermag das so interpretierte Spiel die verschiedensten Querschnitte der Gesellschaft emotional zu imitiieren. Es bringt die grundsaetzlichen Triebe (die „Primaerimpulse” von Siegfried Kracauer) in Bewegung. Es entsteht der Schein (der bis zu einem gewissen Grade und auf eine bestimmte Weise auch emotional erlebt wird), dass der Karoussel der Triebe deren wirkliche Bewegung hervorbringt, der Scheint enthaelt ferner, dass die Mobilisierung der Triebe, ihre Aufnahme in kreative Lösungen von existentiellen Problemen, ihre Kaempfe und eventuellen Siege auch in dem Sinne „wirklich” sind, dass damit ihre Befriedigung auch mit jenen kathartischen und ganzheitlich reproduzierenden Wirkungen zusammengeht, wie es mit der wirklicher Befriedigung wirklicher Triebe der Fall sein muss.
Auch wenn Broch es nicht formulieren kann (und das können wir bis heute letztlich nicht formulieren), interessiert ihn diejenige spezifische Differenz, die zwischen dem fiktiv bleibenden und imitiierenden und der wirklichen Triebkaroussel besteht. Seine eindeutige Meinung entspricht zutiefst auch der Anschauung der klassischen Pychoanalyse. Optimal kann nur die wirkliche Triebbefriedigung sein, so wird jede sekundaere, abgeleitete oder virtuelle Triebbefriedigung nur suspekt, wenn nicht eben pervers oder Krankheitssymptom sein. In diese Gruppe sekundaerer Triebbefreidigungen reiht sich auch diejenige der Spiele, und sei es auch der holistischen Spiele, die die Totalitaet heraufbeschwören können.
Die virtuelle oder imitativ bleibende Triebbefriedigung wird vom Regelsystem des Spiels geleitet. Innerhalb dieses Regelsystems ist es möglich, die Komplexitaet des Lebens heraufzubeschwören, waehrend die endlichen Lösungen, die eingegrenzten Alternatíven schon durchaus wesentlich, wenn nicht eben schmerzlich von der Vollstaendigkeit des Lebens unterscheiden.
Diese Limitation zeigt sich durchaus transparent, wenn wir die Probe machen, die ab ovo festgestellte Eingegrenztheit des Spiels in die Mitte von realen Lebenssituationen zu stellen. Nehmen wir an, dass eine Dienststelle, eine Produktionseinheit für sich ein endgültig gemeintes Regelsystem aufstellt. Man deklariert, dass es endgültig, nicht mehr modifizierbar und optimal sei. Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Regel sich anfangs langsam, spaeter immer schneller vereinfachen, einige Regeln verschwinden, andere wechseln ihre Funktion, das Leben tritt letztlich immer erstaunlich schnell aus der „endgültigen” Herrschaft der ”optimalen” Regelung hinaus.
Für Broch ist es nicht weniger wichtig, dass die volle Persönlichkeit des Spielers selbst, aber auch die der anderen Spieler waehrend des Spieles auch reduziert wird. Dies ist der naechste umfassende Unterschied zwischen wirklicher und imitativer Triebbefriedigung. Es heisst selbstverstaendlich nicht, dass die Persönlichkeit des Spieles auch in dieser Reduzierung keine Rolle in einem differenzierteren Spiel spielen würde. Das Spiel mobilisiert die Persönlichkeitsenergien und Impulse, waehrend die Triebbefriedigung nur eingegrenzt bleibt.
Broch deutet bereits auch an, dass waehrend die konstruktive Positivitaet der Triebbefriedigung im Spiel nicht realisiert wird, wird es aber – in der Wirklichkeit! – schon möglich, dass es in der negativer Richtung schon anders ausschaut. Die Relation zwischen Siegern und Verlierern, die symbolische Vernichtung des Gegners (und die wirkliche auf der Strasse durch fan armies) bleibt einerseits zwar auch virtuell und imitatív, deren Agressivitaet ist aber von Anfang an an der Schwelle, sich auch als Imitation in die Positivitaet umzuschlagen.
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Simmel, Georg, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humblot , Leipzig 1908.
Tögel, Christfried, Varga Jenő, a pszichoanalízis, a Tanácsköztársaság és a sztálinizmus. in: Thalassa(11), 2000, 2–3. http://www.c3.hu/~thalassa/200023/arch0023/togel.htm
Abkürzungen:
IZP - Internationale Zeischrift für Psychoanalyse
[1] Am ausführlichsten in: Der Tod der "k.u.k. Weltordnung" in Wien. Wien-Köln-Graz (Böhlau-Verlag), 1986.
[2] Diese Geschichte ist in unseren Augen alles andere als deviant, sie ist im Gegenteil eine Deskription des allgemeinen Modells der intellektuellen Innovation. Nicht nur an dieser Stelle dieser Arbeit sollte man deshalb im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Moderne und Postmoderne darauf hinweisen, dass in einer Gesellschaft, wo es prinzipiell keinen Widerstand gegen die intellektuellen Innovationsschübe gibt, kaum eine intellektuelle Innovation möglich werden kann.
[3] Der Dreieck Fliess-Swoboda-Weininger zeigt diese Situation der aeussersten und in ihren letzten Ursprüngen trotzdem positiven Diagonalitaet.
[4] Die persönliche Naehe Victor Adlers zu Freud, die wissenschsftslogische Sensibilitaet des Austromarxismus, sowie ihre Offenheit den sozialpsychologischen Ansaetzen gegenüber weisen auf diese potentielle Naehe inmitten der Distanz hin.
[5] Auf eine ironische Weise (und mit Hilfe der Umgangssprache) könnte man diese Tatsache mit der Bemerkung abtun, dass Broch viel zu klug und allwissend war, um so einfach Literatur schreiben zu können. Die wirkliche Lösung liegt jedoch in der auch für den Autor selbst kaum bewusste Verwicklung der Wahrnehmung der neuen Einsamkeit, die ja erst nach schwerer psychischer Arbeit über ihre rein psychologische Dimension hinaus auf der einen Seite als ein literarisches und auf der anderen Seite ein wissenschaftliches Problem sich artikulierte.
[6] Das Augenspiel. München, 1985 (Hanser). 42.
[7] Hermann Broch, "Kultur 1908/1909", in: Philosophische Schriften 1. Kritik. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1977. 13.
[8] Hermann Broch, Briefe. Band 3., Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1981. 418-419
[9] Die Argumentation kann in beiden Richtungen identisch sein mit der, die wir bei der Analyse der neuen Einsamkeit erörtert hatten.
[10] Dieser Problemkreis kann sehr scharf zeigen, wie gründlich jene Brochsche Rhetorik fundiert ist, die so oft als abstrakt und leer vorkommt. Die ganze Rekonstruktion des "Schlafwandelns", bzw. des "Daemmerzustandes" illustriert, wie konkret Broch jedesmal über eine Einheit von Rationalem und Irrationalem sprach.
[11] S. darüber Endre Kiss, Hermann Broch elmélete a polihisztorikus
regényről. Budapest (Akadémiai), 1981.
[12] S. Stuart Gilbert, James Joyce's Ulysses. Erste Auflage 1930 (Penguin, 1952). 24-25., sowie M.H. Abrams, A Glossary Of Literary Terms. New York, etc. 1984 .4. Auflage (Holt-Saunders International Editions), ferner Otto F. Best, Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele, Frankfurt am Main (Fischer) , 1973, überarbeitete Fassung: 1982, 63..
[13]"Ich wusste von Dichtern, die vom Visuellen und solchen, die vom Akustischen bestimmt waren. Dass es einen geben könnte, der sich durch die Art seines Atems bestimmen liesse, waere mir früher nicht eingefallen". Das Augenspiel, 32.
[14] Das ist wieder ein Punkt, von wo man wieder einen legitimen Anschluss an die Literaturtheorie, bzw. die Romanaesthetik finden kann. Denn der Zustand des "Schlafwandelns", des "Rückverwiesenseins" auf die Einsamkeit ist einerseits die interpretative Suggestion des Dichters (etwa durch den Zerfall-Essay). Andererseits sind sie Teile der Wirklichkeit, sind sie sozialontologisch verankert.
[15] S. Endre Kiss, "Hermann Broch im Lichte der poststrukturalistischen Philosophie", in: Cahiers d'Etudes Germaniques, 1989/16.87-91.
[16] Über das bipolare Denken des vor allem österreichischen Positivismus s. ausführlich Der Tod der k.u.k. Weltordnung in Wien, a.a.O. , 1980.
[17] Hermann Broch, "Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse", in: Philosophische Schriften 2. Theorie. Frankfurt am Main (Suhrkamp) , l977. 177.
[18] Endre Kiss, Der Tod der k.u.k. Weltordnung in Wien. a.a. O. S. das Abschlusskapitel "Neudefinierung des Konkreten", in dem die grundsaetzliche Problematik der Werke von Karl Kraus, Franz Kafka, Hermann Broch und Ludwig Wittgenstein behandelt werden. - Das Problem des Konkreten, welches ja auch Elias Canetti so grundsaetzlich im Bann hielt (s. darüber u.a. Endre Kiss, "Zum österreichischen Denken. Elias Canetti in den siebziger Jahren", in:
Pannonia, 1982/1.) erscheint vor dem Alltagsbewusstsein als Trivalitaet, waehrend dasselbe Alltagsbewusstsein die Aufgabe und die Legitimation von den philosophischen Wissenschaften in der Aufstellung von nicht-konkreten, in diesem Sinne "abstrakten" Theoreme über das "Konkrete" besteht. Dass diese Auffassung vom Konkreten nicht stichhaltig ist, die Tatsache, dass auch das Konkrete im Bewusstsein eine kategoriale Konstruktion ist, wird von dem Alltagsbewusstsein nicht reflektiert. Canettis Verfahren zeugt von seiner klaren Einsicht in diese merkwürdige Problematik restlos. - Dass sich die in ihrem Wesen aehnlichen Variationen dieser Neudefinierung des Konkreten bei Wittgenstein, Broch, Musil, Kafka oder Kraus in ihren > konkreten Gehalten durchaus unterschiedlich beschaffen sind, relativiert den Wahrheitsgehalt der Gemeinsamkeit dieser Autoren in der Neudefinierung des Konkreten keinesfalls.
[19] Es ist wissenschaftslogisch von grosser Bedeutung, dass hier die Legitimation mit der positiven Verifikation der einzelnen Thesen praktisch zusammenfaellt. Die Notwendigkeit, dass diese Legitimation/Verifikation durchgeführt wird, leitet dazu hinüber, dass die ursprüngliche Phaenomenologie - auf völlig konsequente Weise - in der Methodik Canettis in einen genealogischen Positivismus übergeht. Die Geltung dieser Verbindung der Methodologie ist von grundsaetzlicher Bedeutung. Ein treffendes Beispiel ist das folgende: "Alle aufgezaehlten Formen des Überlebens sind uralt, sie finden sich schon, wie im folgenden nachgewiesen wird, bei den Naturvölkern." (Elias Canetti, Masse und Macht. Frankfurt am Main (Fischer), 1980. 278.) In diesem Satz findet man einerseits das letzte Ergebnis der phaenomenologischen Untersuchung (das Überleben) und andererseits den gleich sich artikulierenden Anspruch, dieses Ergebnis historisch-genealogisch zu untermauern ("Alle Formen des Überlebens...finden sich...bei den Naturvölkern"). Daher auch das Staunen vieler Leser bei der Lektüre der Masse und Macht, die im Werke anstatt einer weiteren Analyse die unendliche Reihe von positiv-genealogischen Materialien lesen muss.
[20] Wie aus unseren Darlegungen ersichtlich werden muss, vertritt damit Canetti eine einmalige und klassische Position in der Disziplin der modernen Massenpsychologie. Es ist kein Zufall, dass sich diese massenpsychologische Theorie in der Richtung einer Sozialtheorie des zwanzigsten Jahrhunderts bewegt. Ein vielsagendes Beispiel dafür ist für uns Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie.
[21] Damit wiederholt er genau den logischen Gang jeder wesentlichen Wende in der Geschichtswissenschaft, aber auch in der geschichtlich orientierten Theorie. Diese Wenden entstehen sonach nicht aufgrund einer langsamen Akkumulierung der positiven Kenntnisse und Materialien über einen historischen Gegenstand oder ein historisches Zeitalter, auch nicht aufgrund der Paradigma-Theorie von Thomas S. Kuhn, sondern immer auf die Suggestion einer wirklich effektiven neuen Einsicht in die Gegenwart! In dieser Hinsicht ist Canettis Theoriebildung geradezu klassisch: Die Einsicht in die neue Realitaet der Massen führt zu einer ganz neuen Einschaetzung der universellen Menschheitsgeschichte - die anfaengliche > Methode der Phaenomenologie wird durch einen (wie wir darauf noch zurückkommen müssen) genealogischen Positivismus ergaenzt und auf diesem Wege auch abgelöst.
[22] Dieses Naeherbringen des Begriffes der Masse und der historischen Menschheit überhaupt (durch Transformation der Mikrologie des Lebens) ist gewiss eine der erstaunlichsten Konsequenzen des Canettischen Werkes. Es gilt auch als eine geistreiche Zurücknahme der oft immer noch geltenden bildungszentrischen Geschichtsauffassung des neunzehnten Jahrhunderts, welche den Individualisationsbegriff dieses Jahrhunderts auf die Gesamtheit der Geschichte zurückprojizierte.
[23] Eine in der post-modernen Interdiskursivitaet verwirklichte Anwendung der spezifisch phaenomenologischen Beschreibung wird bei Canetti bereits vorweggenommen. Über die verschiedenen Facetten dieses Problems s. folgende Arbeiten vom Verf.: "Arthur Schopenhauer filozófiai 'discours'-ja", Valóság, 1988/10, 91-100; "Hermann Broch im Lichte der post-modernen Philosophie", in: Cahiers d'Etudes Germaniques. a.a.O., sowie "Über Hermann Brochs Ambition, ganzheitliche Strukturen ganzheitlich darzustellen. Reflexionen über die Möglichkeit einer nicht-affirmativen Broch-Forschung", in: Hermann Broch. Werk und Wirkung. Bonn (Bouvier), 1985. 65-86.
[24] Zwar redet Canetti nicht darüber, dass er die gewohnte soziale Realitaet in phaenomenologische Klammern setzt, tut er es doch, indem er die Beschreibung der Masse so durchführt, wie es eben in der Masse und Macht geschieht. Orthodox phaenomenologisch im Sinne der Ausklammerung existentieller Bestimmungen erscheint beispielsweise der folgende einleitende Gedankengang Canettis: "Eine ebenso raetselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war. Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben, fünf oder zehn, nicht mehr. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen." (Masse und Macht, 10.)
[25] Masse und Macht, S. 26.
[26] Die vorprogrammierte Gefahr der Massenerscheinungen hat einen merkwürdigen zweifachen Status, der Canettis "Umwertung der sozialen Existenz in Hinsicht auf Individualisation und Massenwesen" entstehen liess: Einerseits führt das Massenwesen zu Entladungen und vielen Arten der irrationalen Handlungen im gewöhnlichen Sinne des Wortes, waehrend andererseits die Massenexistenz als normale, wenn eben nicht fundamentale condition humaine, dieselben "irrationalen" Elemente auch als durchaus rationale und eben "vorprogrammierte" aufscheinen laesst.
[27] Dass diese von Michel Foucault übernommene Bezeichnung auch auf Canettis Masse und Macht angewandt werden kann, ist ein neuer Beweis für die in der phaenomenologischen Methode der Beschreibung bestehenden Gemeinsamkeit zwischen Canettis (Brochs, etc.) Methode und dem Postmodernismus unserer Zeit.
[28] Das Überleben spielt in Canettis Theorie der Massen dieselbe positiv-inhaltliche Rolle des Erklaerungsprinzips wie beispielsweise der (korrekt verstandene) "Wille zur Macht" bei Nietzsche oder die "Produktion"bei Marx. Es ist ein letztes Prinzip der Erklaerung, ist aber nicht metaphysisch, sondern steht unter einem extrem starken Verifizierungszwang. Mit anderen Worten: Würde es sich erweisen, dass das Verhalten der Massen (bzw. der Einzelnen) nicht vom Überlebenswillen motiviert ist, faellt die Theorie. [29] Die Moderne als Archaisches ist nicht nur wieder ein Zug, der Canetti mit Michel Foucault ("Archaeologie des Wissens") in Verbindung bringt, es ist auch wichtig, weil damit Canetti ein unsichtbares und unreflektiertes Ordnungsprinzip, und zwar die radikale Trennung unseres Wissens in Traditionelles und Modernes deutlich in Zweifel zieht.
[30] Unter Zweimenschentheorie (es geht um einen Werkstattbegriff von uns) verstehen wir diejenige, offen nicht artikulierte Einstellung von mehreren Massenpsychologien, wonach es am Ende der Masse-Mensch und die Elite (oder andere Versionen der nicht massenhaften Existenz) als zwei Qualitaeten unterschiedlichen Ranges und demgemaess dann unterschiedlicher Klassenordnung erscheinen. Diese Unterscheidung gewannen wir aus unserer Forschungsarbeit in der Rekonstruktion von massenpsychologischen Konstruktionen. Die meisten Massenpsychologien, auch wenn sie anfangs prinzipiell den entgegengesetzten Standpunkt beziehen, können diese Falle der Zweimenschentheorie nur selten vermeiden. Dies faellt um so schwieriger ins Gewicht, weil die manifest werdende Zweimenschentheorie den bereits vorhandenen Verdacht gegen die Gattung der Massenpsychologie in extremem Ausmass naehrt und dadurch die massenpsychologische Arbeit stets zu stigmatisieren droht.
[31] Ein bis jetzt weniger betonter wichtiger gemeinsamer Zug ist es, dass Brochs "Daemmerzustand" das Individuum und die Masse ebenso "physisch" und "psychisch" vermittelt, wie Individuum und Masse bei Canetti stets ineinander übergehen können.
[32] Die grösste Differenz zu Musil macht Canettis mangelndes Interesse für Individuum und Individualisation aus. Man dürfte allerdings nicht vergessen, dass Canettis Theorie über die Masse generell auch eine seltsame Ergaenzung zu Musils Gedankenwelt darstellt.
[33] Der Unterschied zwischen Kraus und Canetti besteht nicht so sehr in der eigentlichen Analytik des Massenverhaltens, als vielmehr in der geschichts- und kulturphilosophischen Interpretation derselben, welche letztere auch als Anspruch bei Canetti fast völlig fehlt, bei Kraus aber geradezu vorherrscht.
[34] Tatsaechlich spielten sich im Laufe des ost-europaeischen Systemwechsels zahlreiche Ereignisse ab, die mit den Handlungen von Canettis einzelnen Massen durchaus leicht identifizierbar waren. Um nur ein einziges konkretes Beispiel zu geben, denke man an den rumaenischen Aufstand im Dezember 1989.
[35] S. Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München-Wien, 1985. 185.
[36] Hermann Broch, Schriften zur Literatur 1. Kritik. Frankfurt am Main, 1975. 59-62.
[37] S. über Canetti’s unreflektierte, nichtsdestoweniger aber konsequente Methodologie E. Kiss, On the Methodological Originality of “Crowds and Power” and the Problem of Renaturalizing of the Political Domain. In: Prima Philosophia, Band 17. Heft 1, 2004.19-39.
[38] Schriften zur Literatur 1. Kritik, 60.
[39] Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München-Wien, 316.
[40] Ebenda, 302.
[41] Ebenda.
[42] Die Fackel im Ohr, 247
[43] Ebenda.
[44] Ebenda, 301
[45] Ebenda,320
[46] Ebenda,321
[47] Schriften zur Literatur/Kritik, 1, 60 (Zweite Sperrung bei Canetti – E-K.)
[48] Ebenda, 60-61
[49] Ebenda, 61.
[50] Ebenda (Sperrung nicht im Original).
[51] Aus den vielen diesbezüglichen Texten s. Schriften zur Literatur 1.Kritik, 85
[52] Das Augenspiel, 200
[53] Ebenda, 249
[54] Ebenda, 30
[55] Ebenda. Sperrung im Original.
[56] Ebenda.
[57]In dieser Beleuchtung erscheint plötzlich als bedeutungsvoll, wenn Broch das Dichterische so oft und auf so vielen Weisen mit dem Irrationalen assoziiert. Diese epistemologisch anmutende, vielleicht aber doch eher psychologisch motivierte Naehe wertet den sog. Daemmerzustand für Brochs polyhistorischen Roman so intensiv auf (Kiss, 2003).
[58] „Vom Autor aus gesehen: der epische Dichter hat bloss in seinem Stoff zu leben, der dramatische muss den Stoff auch unausgesetzt auf der Bühne erleben, d.h. er erlebt nicht nur das psychische Geschehen seiner Gestalten, sondern auch die aufnehmende Seele eines, wenn auch idealen Publikums….Schund kann infolgedessen auch aus Überheblichkeit fabriziert werden…Erneuerung des Theaters? sie waere hoffnungslos, wenn das Publikum tatsaechlich so idiotisch waere, wie Autoren, Direktoren und Filmfabrikanten es sich vorstellen… Die allgemeine menschliche Problematik tritt in vielerlei irdischen Gestalten auf. Das Problem des heutigen menschen ist Not: das Humane und damit auch das Metaphysische seines Daseins bedraengt ihn in Gestalt des Wirtschaftlichen und Sozialen..Waere dem nicht so, so waere das abstrakte Problemtheater, wie es Brecht vorschwebt, weder als Produktion, noch – und dies noch weniger – als Konsumtion denkbar. Wenn das Brechtsche Drama trotzdem in seiner Wirkung hinter dem bürgerlich-naturalistischen Theater zurückbleibt, so liegt auch dies zum Teil an jener ’Überheblichkeit’, mit der die Problematik auf die Dürftigkeit von Schlagwortthesen reduziert wird, zum grössten Teil jedoch daran, dass die grössere Abstraktheit den Durchbruch des allgemein Menschlichen verhindert. Der Abstraktismus kapselt die begrenzte Thesen in sich ab.” („Technische Vorbemerkungen zur Entsühnung.” in: Broch, 1979, 403-404.)
[59] Wir haben einen sicher zu nehmenden Grund, die spezifische Beziehung zwischen Gyömrői und Spitz im Sonntag-Kreis sozial auch qualitativ zu interpretieren. Dieser Kreis vereinte junge Intellektuellen aus verschiedenen Generationen. Die Jüngeren wurden „knába” genannt und wurden meistens auch in einzelnen zusammenhörenden Paaren wahrgenommen.
[60] René Árpád Spitz ist mit grosser Wahrscheinlichkeit der erste Psychoanalytiker jener jungen Generation, der auch Edit Gyömrpői zugehört. Es ist eine bedeutungsvolle Tatsache, dass für Spitz dieselbe mutige politische Extravaganz wie für Gyömrői charakteristisch ist. Waehrend Gyömrői die Materialien des Reichstagsprozess nach der Schweiz schmuggelt, ist es René Árpád Spitz,.der 1919 in Budapest jenen Tibor Szamuely versteckt, der als Kommissar der politischen Polizei in der Kommüne als verhasstes Symbol des politischen Terrors auf der Flucht ist.
[61] Broch, 1980, 39. die Widmung s. ebenda, 178.
[62] Harmat, 1994.
[63] Das zeigt sich unter anderen darin, dass sie unabhaengig von der historischen Situation und ihren konkreten anderen Interessen und Verpflichtungen stets Mitglied einer ungarischen Delegation ist, die die ungarische Psychoanalyse international vertritt. Angesichts der stets zum Sektierertum neigenden psychoanalytischen Bewegung ist diese Kontinuitaet eine vielbedeutende Tatsache.
[64] Die selten ganz zugegebene, nichtsdestoweniger aber sehr oft praktizierte Überwindung der klassischen Psychoanalyse richtet unser Augenmerk an einige weitere Lebenswerke, in denen wir entweder mit einer klaren Ablehnung konfrontiert sind (von den Ungarn seien die Beispiele von Gyula Illyés oder László Németh genannt) oder in denen eine reife und auf Gleichrangigkeit Anspruch erhebende Alternativkonzeption erscheint (wie etwa Karl Kraus oder Robert Musil bei den Österreichern).
[65] Erstmals ausgeführt Kiss, 2001.
[66] Über Hermann Brochs „philosophischen Diskurs” s. Kiss, 2001.
[67] In einer Rezension wird in diesem Zusammenhang sehr richtig vermerkt: „Von seinem Innenleben erfaehrt (in diesen exponiert „psychoanalyitisch” orientierten Texten!- E.K.) der Leser allerdings nichts” und in derselben Rezension etwa noch: „Seine Fragmente einer Sprache der Liebe sind allerdings völlig blutleer…” (Hildebrandt, .271.) -Es versteht sich von selber, dass Vertreter der in der neueren Literaturwissenschaft verbreiteten Idee der „Konstruktion” (beispielsweise auch in der Form der Konstruktion einer Biographie) diese neue homogene Sprache von Broch (hinter der ja drei Perspektiven, bzw. intellektuelle Rollen stehen) als Bestaetigung ihrer theoretischen Ansatzes begrüssen würden. In Wirklichkeit würde diese Bestaetigung jedoch nicht zustimmen, weil Brochs Verenigung von Perspektíven und Sprachen keine beliebige, sondern eine sehr konkrete und historisch sehr bestimmte Konstruktion ist, die weder zu allgemein-hermeneutischen Konsequrenzen hinführt, noch aus allgemein-hermeneutischen Annahmen abgeleitet werden kann.
[68] Eine Formulierung mit theoretischer Praegnanz: „…Analyse (ist) nicht das Um und Auf der Psychologie ist (…) , so wenig, wie Soziologie lediglich aus Marxismus aufgebaut werden kann…”. Brief an Hans Sahl, 11. November 1943. S. (Broch, 1981/2, 360.)
[69] Broch, 1981/2, 146. - Von einer aehnlichen Attitüde zeugt, dass Broch den Text „Bericht an meine Freunde” (KW, Bd.11.S. 25-30) auch an René Árpád Spitz schickt (S. den Brief Brochs an Spitz, am 6. April 1939, Br, Band 2- 66-67). Der Text, der übrigens auch als eine Vorfassung der psychoanalytisch-autobiographischen Schriften aufgefasst werde kann, dürfte durch Spitz auch Gyömrői erreichen.Er kann ferner auch als eine provisorische Idee aufgefasst werden, in der Emigration eine geregelte Kommunikation á la Fenichel-Tagebücher zu inaugurieren.
[70] An dieser Stelle erwaehnen wir mit Nachdruck, dass die Involvierung des Patienten in die Analyse, der Gebrauch aktiver Techniken, die Veraenderung der Sprache, die Tagebuch-Methode alle Momente sind, die die Analyse in der Richtung einer Gegenseitigkeit und einer damit in gutem Falle zusammenfallenden Gleichrangigkeit verschieben. Das ergibt dann den Punkt, wo eine neue Dimension der Psychoanalyse auf den Plan tritt, welche einer an den spaeteren Existentialismus erinnernde Sichtweise den Weg öffnet. Kein Wunder, dass sich nicht wenige Existentialisten, unter ihnen auch Jean-Paul Sartre, mit der Psychoanalyse in diesem Zusammenhang auseinandersetzten. Diese Emanzipierung des Einzelnen gewinnt aber auch im Kontext einer anderen besonders wichtigen philosophischen Auseinandersetzung eine hervorragende Bedeutung. Und das ist eben die Problematik einer möglichen Vereinigung des Marxismus mit der Psychoanalyse. Denn die Psychoanalyse war eben berufen, das Individuum in dem ökonomischen, politischen und geschichtsphilosophischen Konstrukt zu vertreten. Diese Vertretung waere aber ohne eine Emanzipierung des Einzelnen, ohne einen Humanismus also unvorstellbar.
[71] Brief an Hedwig Schaxel-Hoffer, der 14. Februar 1940. S. Lützeler, 1965. 258. – Der Brief im entsprechenden Band der Kommentierten Werkausgabe nicht enthalten.
[72] „Massenwahntheorie”, 104
[73] „Massenwahntheorie”, 110
[74] . Broch nem csak kimondja az öndestruktivitás tényét (136) de ezt az új alap helyzetet már a XX. Századra is vonatkoztatja. Ha pedig ez így van akkor ez az elmélet Brocnál már alkalmas lesz a XX. Századi társadalomlélektan jelenségeinek magyarázatára is.
FEL