PSZICHOLÓGIA


Ulrike Pilarczyk (Universität Potsdam)

Zur medialen Konstruktion von Gemeinschaft in der jüdischen Jugendbewegung

 

2019.11.05

Zu den zentralen Begriffen der sozialen Bewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts gehört der der Gemeinschaft. Über das Verständnis von Gemeinschaft in sozialer, politischer und religiöser Hinsicht, über Ziele der Gemeinschaft (Leben in der Diaspora, zionistischer Aufbau in Palästina), über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft und Gemeinschaftserziehung wird auch in den jüdischen Bünden vor allem in den 20er Jahren hart gerungen.

Die jüdische Jugendbewegung entwickelte sich zeitlich versetzt parallel zur nicht-jüdischen Jugendbewegung[1] - einerseits in Abkehr zum wachsenden Antisemitismus in Deutschland und im Wandervogel (Winnecken 1991), andererseits als Reaktion auf die europaweit sich konsolidierende zionistische Bewegung.

Für die jüdische Jugend in Deutschland formulierte Martin Buber 1919 das Problem und die Aufgabe, dass sie die „Gemeinschaft nach der sie Verlangen trägt, erst wahrhaft finden muss“ (S. 57). Die Diskussionen lassen sich in den Bundesblättern und anderen Veröffentlichungen der Bünde, die sich in den 20er Jahren zahlreich gründen und verzweigen, nachvollziehen, sie finden zum Teil auf hohem theoretischen Niveau statt, vor allem diese Ausdrucksebene wurde von der historischen Forschung bisher wahrgenommen.[2]

Was die jüdische Jugendbewegung den Einzelnen bedeutete, blieb bisher wesentlich Aufgabe von Erinnerungsliteratur[3] oder wurde versucht mittels nachträglicher Interviews in Erfahrung zu bringen.[4] Die Gründe für die Präferenzen der Forscher formulierte der intime Kenner der jüdischen Jugendbewegung Hermann Meyer-Cronemeyer 1968 so:

„Das Eigentliche, das Wandern und das Lagern, das Gefühl des Zusammengehörens, die Zuversicht des ‚Mit uns zieht die neue Zeit‘ ... genügte es, einmal zu registrieren und zu deuten, denn ob eine Fahrt nun nach X oder Y ging, ob besser oder schlechter gesungen wurde, ist historisch relativ belanglos, während das Uneigentliche, die Ideen, also das, was von den kaum 10 % der älteren Mitglieder gedacht und erstrebt wurde, das historisch Relevante ausmachen. Die Mittleren und erst recht die Jüngeren verstanden ja gar nicht, worum es bei den geistigen Höhenflügen ging.“ (1968, S. 81)

Der außerordentlichen Bedeutung, der dem „Eigentlichen“ von denen, die es erlebten und gestalteten, in dieser Zeit und bis heute zugemessen wurde, wird man damit nicht gerecht, und es ist wohl auch so, dass das historisch Relevante erst auf dem Boden dieses scheinbar „Belanglosen“ gedeihen konnte. Anders lässt sich nicht erklären, warum das Interesse der Älteren für die Bewegung (und ihre Ideen) abrupt nachließ, wenn sie nicht mehr aktiv am Fahrten- und Wanderleben teilnehmen konnten.

Unter bildungsgeschichtlicher Perspektive gewinnt dieser Zusammenhang noch größere Brisanz, die Jugendbewegung als Erziehungsbewegung und ihre außerordentliche Wirkung lassen sich ohne Verständnis ihrer prägenden Kräfte nicht angemessen würdigen.

Wenn sich das „Eigentliche“ aber nicht recht mit Worten erfassen lässt, stellt sich die Frage, wie man die das Erlebnis der Jugendbewegung, das die Jungen mit den Älteren teilten, erfassen kann, ohne lediglich zur Erinnerungsliteratur beizutragen und andererseits, ohne Gefahr zu laufen, sich in der Schilderung des im Wesentlichen gleichen Betriebs der Jugendbewegung – Wanderungen, Zeltlager, Heimabende, Bundestage oder auf der Ebene der Organisationen in der Geschichte der Spaltungen, Namenssuchen, Statuten, Meinungsverschiedenheiten zu verlieren.

Im Folgenden versuche ich den Gedanken einer „bewegenden Mitte“, den Chaim Schatzker (2004) in die Diskussion um die jüdische Jugendbewegung einbringt, aufzugreifen, und für die Ebene des Alltäglichen fruchtbar zu machen. Dafür nutze ich eine Quelle, die für die Erforschung der Jugendbewegung – weder für die nichtjüdische noch für die jüdische – noch nicht genutzt wurde[5] – die private Fotografie.

Die leitende Fragestellung der bildanalytischen Untersuchung, aus der ich im Folgenden einen Ausschnitt vorstelle, ist, ob und welche Funktionen die private Fotografie für die Jugendgemeinschaft und die Verwirklichung ihres Selbsterziehungskonzeptes erfüllte.

Wir wissen, dass das Fotografieren zu den Alltagsritualen der Jugendgruppe gehörte wie die Sonntagsfahrt, der Heimabend, das Gespräch untereinander und das gemeinsame Essen. Naturverbundenheit und Zivilisationskritik hinderte die jungen Leute jedenfalls nicht, das damals hochmoderne technische Medium ausgiebig zu nutzen.

 

Abb. 00

 

Während jedoch die meisten dieser jugendbewegten Rituale lediglich als Fakt erinnert werden, hinterlässt das Fotografieren eine visuelle Spur des Erlebnisses, mit dem es verbunden war. Fotografien können damit als ausgezeichnete zeitgenössische Quelle dienen, denn sie sind nicht überformt durch nachträgliche Interpretationen.

Dass diese vorzügliche Quelle bis heute so wenig und zur Erforschung der jüdischen Jugendbewegung bisher gar nicht genutzt wird, liegt zum einen an den vielfältigen methodischen Schwierigkeiten, die mit der Nutzung von Fotografien, insbesondere der privaten, verbunden sind, zum anderen daran, dass das dafür geeignete fotografische Material erst gefunden werden musste. In Deutschland gibt es kaum private Fotografien und Materialien aus den jüdischen Bünden, die jungen Menschen emigrierten entweder oder fanden in den Vernichtungslagern den Tod, nur einige wenige überlebten im Untergrund (vgl. Schwersenz 2000), Nachlässe wurden systematisch vernichtet. Wenig bekannt ist, dass die, die dazu noch die Gelegenheit hatten, ihre fotografischen Erinnerungen mit auf ihre Reise nahmen. Auf mehreren Forschungsreisen im Rahmen des DFG-Projektes „Wandering images“[6] haben wir durch den Kontakt mit unterdessen hochbetagten ehemaligen Mitgliedern jüdischer Jugendbünde mehr als 70 private Fotoalben mit ca. 6000 privaten Aufnahmen aus der Zeit 1924-1938 reproduzieren und archivieren können, die auch die Materialgrundlage der folgenden Untersuchung sind.

Die Fotografien repräsentieren die in diesem Zeitraum bedeutenden und zahlenstarken Bünde - Blau-Weiß, JJWB/Brit Haolim, Kadima, Kameraden bzw. Werkleute, Habonim, Makkabi Hazair, Haschomer Hatzair, Esra. Die Bewegung war heterogen, das Spektrum reichte von national-deutsch, über Vorstellungen deutsch-jüdischer Symbiose über zionistisch bis hin zu chaluzisch-zionistisch, wobei sich auch diese konkret auf das nationale Aufbauwerk in Palästina orientierten Gruppen hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Überzeugungen (religiös bzw. nicht religiös) unterschieden.[7]

Methodisch stützt sich die Untersuchung auf die von mir und Ulrike Mietzner in zehn Jahren Forschung ausgearbeitete Methode der seriell-ikonografischen Fotoanalyse, ein qualitatives und quantitatives Verfahren zur Auswertung bildlicher Quellen, insbesondere von Fotografien für sozialwissenschaftliche und erziehungshistorische Untersuchungen (Pilarczyk/Mietzner 2003, 2004).

 

 

1. Bilder der Gemeinschaft

 

Nach der ersten thematischen und motivischen Sondierung des Materials kann gesagt werden, dass hinsichtlich der Häufigkeit, die Darstellung von Gruppenformationen und Gruppensituationen gegenüber der Präsentation von einzelnen etwa im Porträt oder Familienaufnahmen deutlich überwiegt. Um Ihnen eine Vorstellung von dieser Bildwelt zu geben, werde ich im folgenden Beispiele für die zentralen Themen zeigen.

Gruppenformation Reihen

Abb. 1: Privatalbum Alexander (Sascha) Steinberg (Kameraden)

Osterfahrt 1932 (Archiv Hazorea)

Gruppenformation Kreise und Halbkreise

Abb. 2: Privatalbum Sally Karl Salomon (Kameraden),

Ostseelager 1927 (Archiv Hazorea)

 

Ordnungsformationen

Abb. 3: Lotte Kuhnreuter (Ramot) (Habonim), 30er Jahre, (Privatbesitz Lotte Ramot, Givat Brenner)

Freundschaftsformationen

- weiblich

Abb. 4: Privatalbum Ruth Schön (Lavi) (Makkabi Hatzair) o.J. Ende der 30er (Privatbesitz Ruth Lavi, Haifa)

 

Haufen

 

Abb. 5: Privatalbum Jacob Sack (JJWB), gemeinsame Rheinfahrt mit dem Esra 1927 (Privatbesitz Jacob Sack, Givat Brenner)

Haufen

 

Abb. 6: Privatalbum von unbekannt, verm. Mitte der zwanziger (JJWB/Brit Haolim) (Archiv Givat Brenner)

 

Ebenso häufig sind die Darstellungen gemeinsamer Aktionen

 

Rasten (siehe auch Haufen)

 

Abb. 7: Privatalbum Salli Karl Salomon „Friedrich mit seinen kleinen ‚Neunern’“ (1930) (Kameraden)

(Archiv Hazorea)

 

Lagern

 

Abb. 8: Privatalbum Alexander (Sascha) Steinberg, Sonntagsfahrt Mai 1932, (Archiv Hazorea)

 

Essensvorbereitungen, Kochen,

Abb. 9: Privatalbum vermutl. Arie Atzor (IIWB), 20er Jahre, (Archiv Givat Brenner)

Essen

 Abb. 10: Privatalbum Käthe Weil (Kadima) Ende der 20er Jahre (Archiv Givat Hayyim Ichud)

 

Singen

 

Abb. 11: Privatalbum Martin Klein, (Kadima) Pfingstlager 1929 in Heinsheim (Privatbesitz M. Klein, Kfar Jedidya)

Tanzen (Horra), Sport

 

 Abb. 12: Privatalbum Ruth Schön (Lavi) (Makkabi Hatzair) o.J. Ende der 30er (Privatbesitz Ruth Lavi, Haifa)

 

Abb. 13: Privatalbum Alfred (Eliezer) Wertheim (JJWB) 1931 (Privatbesitz Hanni Wertheim, Givat Brenner)

 

 

Abb. 14: Privatalbum Alexander (Sascha) Steinberg, Sonntagsfahrt Mai 1932, (Archiv Hazorea)

 

Die Serien zeigen deutliche Konzentrationen auf die Bereiche, Rast, Lager, Essen. Die Gruppen erscheinen in Naturräumen, die Darstellungen von formierten Gruppen im Stadtraum sind marginal. Selten erscheinen nichtjüdische Personen im Bild, man kann sagen, dass es eine Tendenz zur zeitlichen und räumlichen Isolation gibt. Darin unterscheiden sich ihre Fotografien von denen bündischer, nicht-jüdische Gruppen fundamental, die seit Mitte der zwanziger Jahre zunehmend die Eroberung sozialer Räume in Deutschland ausdrücken, bei gleichzeitiger Straffung, Formierung und Massierung (vgl. Autsch 2000).

Gemeinschaftliches wird durch Körperformationen zum Ausdruck gebracht, insbesondere durch Darstellungen von Reihungen. Auch gemeinsames Tun – wie gleichförmige Bewegungen in dieselbe Richtung und gemeinsame Verortung auf demselben Weg/Straße, auf derselben Wiese, demselben Baum, Hausdach bzw. im Boot, auf Schienen, auf Heuwagen charakterisieren die Gemeinschaft.

Darüber entscheidet natürlich zunächst der Fotograf durch Motiv- und Ausschnittwahl, doch registriert der Apparat auch jene Formen Symbole der Gemeinschaft, die nicht der Fotograf, sondern der Bund, d.h. die Jugendorganisation geschaffen hat. Dass auch profane Dinge wie der Kochtopf, der Affe, die Wanderstiefel, die Gitarre, der Ball, den die Gruppen bei ihren Fahrten zumeist dabei hatten, zu Symbolen der Jugendbewegung werden konnten, ist wiederum wesentlich ihrer medialen Verbreitung durch die Fotografie zu danken.

Im nächsten Schritt der Untersuchung möchte ich mich stärker auf die Fotografie als gestaltetes Bild konzentrieren. Dafür eignet sich die ikonografisch-ikonologische Einzelbildinterpretation (nach Erwin Panofsky).

 

 

2. Die Gemeinschaft als Bild – der Fotograf[8]

 

Das Bild aus Mitte der 20er Jahre des zionistischen Pfadfinderbundes Kadima repräsentiert einen ganz bestimmten Typ von Fotografien, ich nenne sie Dialogbilder, die deshalb einen besonders intensiven Kontakt zum Betrachter aufbauen, weil die Abgebildeten während der Aufnahme in die Kamera geschaut haben. Das besondere Talent des Fotografen, der später weltberühmt wird und hier ca. 16-17 Jahre alt ist, zeigt sich bereits in dieser Jugendfotografie in der dichten Atmosphäre und der körperlichen Präsenz der Personen. Es handelt sich offenbar um eine Fahrt von Jüngeren, die Abgebildeten sind ca. 13-14 Jahre alt. Es könnte sich um Tim Gidals eigene Kadima-Gruppe auf Wanderfahrt handeln, nach dem Alter ist er vermutlich ihr Führer und fotografiert während einer Rast. Jeder einzelne in dieser Gruppe reagiert auf seine Weise auf den Fotografen und die fotografische Situation, aber trotz der Vielfalt der mimischen und gestisch-körperlichen Reaktionen dominiert insgesamt freundliche Zurückhaltung - eine Reserviertheit, die vor allem über die Blicke und auf der formalen Bildebene durch das linke Bein, das der Junge rechts vorn zwischen Fotografen/Betrachter und den Kreis der Personen geschoben hat, verstärkt ist. Trennend wirkt auch der Teil der Wimpelstange, der vorn rechts als Diagonale das Bild schneidet. Das Bein als formales Bildelement übernimmt außerdem die Funktion, den Kreis der Personen optisch zu schließen. Im Mittelpunkt des Kreises befindet sich eine Feuerstelle mit einer Konstruktion, auf die der Kochtopf gestellt werden kann, er steht aber neben dem Feuer. Das Feuer ist auch optischer Mittelpunkt des fotografischen Bildes. Nach Vegetation und Bekleidung zu schließen, handelt es sich um einen eher kühlen Herbsttag – umso eindrucksvoller wirken die nackten Beine des Jungen rechts vorn. Es lassen sich im Bestand viele Belege dafür finden, dass die Jungen (keine Mädchen) sogar auf Winterfahrten im Schnee mit kurzen Hosen unterwegs waren – die kurze Hose war mehr als ein Bekleidungsstück, es ging den Jungen „gegen die Ehre“, lange Hosen zu tragen (Alfred Oren, Kamerad, Werkleute aus Stuttgart, in Hetkamp. S. 92.)

 

Foto 15: Privatalbum Käthe Weil (Kadima) und Privatalbum Emy Horowitz, 20er Jahre,
(beide Archiv Givat Hayyim Ichud), der Fotograf ist Tim Gidal

 

Die Jugendlichen wirken weder aufgeregt, noch erschreckt, ihre Körperhaltungen verraten eher Gelassenheit. Körperlich sind sie sich nah, vor allem das Mädchen und der Junge (2. und 3. von rechts). Auf der Bildebene ist der Halbkreis, den die Personen bilden, durch die Linie der Baumwipfel und das dunkle Band des Waldrandes aufgenommen. Das Hell des Himmels korrespondiert mit der Helligkeit des Feuers, zwischen dem hellen Zentrum der Gruppe und dem Himmel schafft aufsteigender Rauch eine Verbindung, die man als spirituell bezeichnen könnte.

Die jungen Menschen schauen nicht auf das Feuer, dennoch vermitteln sie den Eindruck, dass sie etwas teilen, das aus genau aus dieser, ihrer Mitte zu kommen scheint. Das Abweisende, mit dem sie sich vor dem zudringlichen Blick des Fotografen schützen, könnte der Bewahrung dieses gemeinsam Eigenen dienen. Wenn man sich die kommunikative Funktion solcher Fotografien vergegenwärtigt, dann transportieren die Blicke der Abgebildeten neben dem Verschwörerischen und dem Stolz auf das Eigene, auch ein Insistieren auf der selbst gewählten Form, Spuren von Trotz bis hin zu leichter Überheblichkeit. Denn wie bei Fotografien üblich, gilt der Blick nicht nur dem Fotografen, sondern auch potentiellen zukünftigen Betrachtern, den Adressaten, in diesem Falle waren das Eltern, Verwandte und Fremde, denn es war üblich, dass Fotos von den Wanderungen herumgingen, etwa so, wie der Kameraden-Führer Kurt Meyerowitz[9] den Eltern seiner „Kücken“ in einem Rundschreiben 1924 ankündigte, dass sie die „feinsten Aufnahmen erhalten sollen“. (Brief an Bundesleitung der Kameraden, Centrum Judaicum Berlin Nr. 13208)

Das Bild eröffnet für die weitere Analyse neue Horizonte, es ergeben sich daraus erstens Fragen nach der Beschaffenheit der Dialogräume, die durch Fotografen und Fotografierte geschaffen werden, wer über den Blick ausgegrenzt wird und wer Teil hat. Des Weiteren wirft die Fotografie die Frage nach dem Geschlechterverhältnis in den Gruppen auf, das hier sehr ausgewogen wirkt. Während (in den schriftlichen Quellen) Frauen kaum das Wort ergreifen (außer in Interviews) und Mädchenthemen rar sind, sind sie auf den Fotografien sehr präsent, lebendig und selbstbewusst. Hier müsste in Zukunft an weiterem zu sammelndem Material geprüft werden, ob das an unserem Bestand liegt oder ob sich eine solche Aussage für die jüdische Jugendbewegung generalisieren lässt.

Eine weitere Frage ist die nach dem Naturerlebnis – was Tim Gidal hier auf der Bildebene formuliert ist der Gleichklang von Gruppenform und Naturlandschaft, verbunden durch ein quasi spirituelles Erlebnis, die Natur als geschlossener Schutzraum und Inspiration. Die enge Verbundenheit der jungen Menschen untereinander und mit der sie umgebenden Natur wird auf der Bildebene durch Ineinanderübergehen von Motiv und Hintergrund und durch Formanalogien visualisiert.

Am Rande sei hier vermerkt, dass diese schützende Atmosphäre keinesfalls Selbstverständlichkeit ist, denn die Naturlandschaften in Palästina werden nur wenige Jahre später in den ersten Jahren nach Ankunft von denselben Fotografen als radikal offen geschildert, Vorder- und Hintergründe werden in der Form und durch Lichtkontrast stark voneinander abgehoben (Pilarczyk 2003a, 2003b).

Weiter wäre zu klären, welche Bedeutung körperliche Nähe und Vertrautheit der Gruppenmitglieder hatten. Gerade diese beiden letzten Fragen spielen im Zusammenhang mit der Ebene der Selbstpräsentation der Abgebildeten eine große Rolle, die daher hier angeschlossen werden sollen.

 

 

Die Gemeinschaft im Bild – die Fotografierten

 

Das Posieren der Gruppe als Gruppe vor der Kamera und ausschließlich für die Kamera ist im Untersuchungsbestand eine der häufigsten Weisen der Selbstdarstellung, anhand der bereits gezeigten Fotografien und am Bildbeispiel Gidal lässt sich das gut nachvollziehen. Das folgende Bildbeispiel ist für die Art und Weise der Selbstpräsentationen im Bestand idealtypisch.

 

Abb. 16: Anni Grossfeld (JJWB) 1930, dasselbe Foto befindet sich auch
im Privatalbum von Jakob Sack (JJWB), ihrem späteren Mann, dritter v.u.

( Privatbesitz J. Sack, Kibbuz Givat Brenner)

 

Das Beispiel zeigt Jungen vom zionistischen Jung-jüdischen Wanderbund in Kluft, die sich in einer Felsspalte in eine vertikale Reihe sortiert haben, wobei sie Mühe zu haben scheinen, nicht auf den Fotografen oder die Fotografin zu rutschen.

Vermutlich bei keiner anderen Gelegenheit wäre die Gruppe auf die Idee gekommen, eine solche Performance zu inszenieren, es handelt sich um eine typisch fotografische Situation. Das heißt, die Fotografie schafft die Form, die sie abbildet, über das Ritual des Fotografierens selbst. Die Personen formen sich zu einem Gemeinschaftsbild in dem vollen Bewusstsein, dass sie ein Bild von sich abgeben und dass dieses Bild fixiert und weitergegeben wird, dieses Bild wird antizipiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Kommentar des Fotografen schwach ausfällt, er hat sich zum Komplizen der Gruppe gemacht und ordnet die Form korrekt mittig an, wahrscheinlich ist er Mitglied der Gruppe. Der Fotograf ist in diesem Fall nicht mehr der (heimliche) Beobachter des Geschehens, sondern eher Reflektor, Konservator und Vermittler des Selbstbildes der Gruppe.

Andererseits wird diese Form zwar ausschließlich für das Foto geschaffen, aber sie wird ja von jedem einzelnen auch tatsächlich erfahren, wenn auch nur für die Dauer der fotografischen Situation. Die Fotografien belegen, dass bestimmte Gruppenformen immer wieder eingenommen werden. Es scheint, als ob das fotografische Ritual die Körper in einem eigenen Rhythmus an bestimmten Orten zu solchen Formen zusammenfügt.

Eine weiter am Bestand zu prüfende These ist: Durch bewusste Gestaltung, Wiederholung, und die bildliche Fixierung werden Gemeinschaftshaltungen inkorporiert, habitualisiert, erinnert.

Es wird also nicht nur ein Bild entworfen, ein geistiger Vorgang in Gang gesetzt, sondern die Form wird auf der Ebene des Körperlichen tatsächlich eingeübt. Welche Konsequenzen das für die persönliche Entwicklung der Einzelnen hatte, ist schwer abzuschätzen, aber es kann vermutet werden, dass der Begriff der Haltung, der ja in der Jugendbewegung sehr wichtig war, und bisher in der Literatur (Autsch 2000) als Gesinnung eher geistig bestimmt ist, in der Jugendbewegung auch eine starke körperliche Komponente hatte.

 

Schluss:

Fotografie und auch Fotoalben, über die ich hier aus Zeitgründen nicht gesprochen habe, dienen als Medien der Konstruktion von Gemeinschaft. Damit ist nicht gemeint, dass sie nur etwas vermitteln, vielmehr haben sie am Prozess der Gemeinschaftsbildung aktiv teil, da Gemeinschaft nie schon ist, sondern immer erst hergestellt und permanent neu geschaffen werden muss.

Die mediale Konstruktion von Gemeinschaft findet auf verschiedenen Ebenen statt, die sich voneinander nicht trennen lassen, aber hier analytisch geschieden wurden. Anlass der Fotografien ist zumeist eine dokumentarische Absicht, Ereignisse und Teilnehmer werden registriert, Mitglieder, Formen und Aktivitäten der Gruppe. Zugleich werden Bilder der Gemeinschaft entworfen – 1. durch die Fotografen, die Themen und Motive wählen, den Standpunkt, die Ausschnitte und fotografische Gestaltungsmittel. 2. geben auch die Abgebildeten ein Bild von sich und der Gemeinschaft bzw. von sich als Teil der Gemeinschaft. 3. schafft das fotografische Ritual Formen, die über das Ritual hinaus prägend sind und 4. fungieren die Fotografien als Kommunikationsmittel in den Gruppen, über das Nachmachen von Aufnahmen und die Verwendung gleicher Aufnahmen wird Gruppenkonsens hergestellt. 5. werden Gemeinschaftserlebnisse und -formen über die Bilder erinnert und tradiert.

Die bewegende Mitte stellt sich aus der Perspektive derer, die daran teilhatten, als das Erleben einer gemeinsamen (spirituellen, wärmenden und nährenden) Kraft dar, die sich über die geistig-körperliche Verbundenheit mit anderen, durch das Verschmelzen von Natur- und Gemeinschaftserlebnis auf magische Weise herstellt. Gemeinschafts- und Naturerlebnis sind nicht zu trennen, sie werden auf der Bildebene als Verwobensein von Körperkonturen untereinander und in Formanalogien mit Naturlandschaft dargestellt

Dieser Befund ist nun am größeren Bestand zu prüfen und auf seine Reichweite hin zu untersuchen, dafür sollten kontrastierend andere fotografische Perspektiven (z.B. die Pressefotografie) und Textquellen hinzugezogen werden, aber das wird Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

 

Literaturverzeichnis:

 

Angress, Werner T.: Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im dritten Reich. Hamburg 1985

Autsch, Sabiene: Erinnerung-Biografie-Fotografie. Potsdam 2000.

Benari, Asher: Erinnerungen eines Pioniers aus Deutschland. Selbstverlag Hazorea o.J.

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Buber, Martin: Zion und die Jugend. Eine Ansprache. (1919) In: Ludwig Liegle/Franz Michael Konrad (Hrsg.): Reformpädagogik in Palästina. Dokumente und Deutungen zu den Versuchen einer „neuen“ Erziehung im jüdischen Gemeinwesen Palästinas (1918-1948). Frankfurt am Main 1989, S. 55-60.

Fölling, Werner/Melzer, Werner.: Gelebte Jugendträume. Jugendbewegung und Kibbutz. Witzenhausen 1989.

Fürst, Max: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München 1975.

Fürst, Max: Talisman Scheherezade. München 1976.

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Goral-Sternheim, Arie: Jeckepotz. Eine jüdisch-deutsche Jugend 1914-1933. Hamburg 1989.

Hackeschmidt, Jörg: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Hamburg 1997.

Hetkamp, Jutta: Ausgewählte Interviews von Ehemaligen der jüdischen Jugendbewegung Deutschlands. Münster/Hamburg: Lit 1994.

Klönne, Irmgard: Deutsch, Jüdisch, Bündisch. Erinnerungen an die aus Deutschland vertriebene jüdische Jugendbewegung. Teil 1. Witzenhausen: Südmarkverlag 1993.

Markel, Richard: Brith Haolim. Der Weg der Alija des Jung-jüdischen Wanderbundes (JJWB). In: Bulletin des Leo-Baeck-Institutes 1966, 9 Jg. Nr. 33-36, S. 119-189.

Meier-Cronemeyer, Hermann: Jüdische Jugendbewegung, Teil 1 und 2. In: Germania Judaica. N.F. 27/28, Jg. 8(1969), H. 1/2 und 3/4, S. 1-122.

Pilarczyk, U./Mietzner, U.: Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. (2004 im Druck)

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Pilarczyk, U.: Fotografie als gemeinschaftsstiftendes Ritual. Bilder aus dem Kibbuz. In: Wulf, Ch./Zirfas J. (Hrsg.): Paragrana 12 (2003b)1, S. 621-640.

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Salinger, Eliyahu. Kutti: „Nächstes Jahr im Kibbutz“. Die jüdisch-chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943. Paderborn 1998.

Schatzker, Chaim: Die ‚Kameraden’. Geschichte einer jüdischen Jugendbewegung in Deutschland. In: Kasseler Semesterbücher. Studia Cassellana Band 13. Kassel 2004.

Schatzker, Chaim: Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland (1919-1933). In: Werner Kindt (Hrsg.): Die deutsche Jugendbewegung Bd. 3 (1920-1933). Die bündische Zeit. Düsseldorf/Köln 1974, S. 769-794.

Schwersenz, Jizack: Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich an Deutschland. Berlin 2000.

Strauss, Herbert, A: Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918-1943. Campus 1997.

Trefz, Bernhard: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes ‚Kameraden’. Frankfurt a.M. et al.: Lang 1999.

Winnecken, Andreas: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1991.



[1] Der erste jüdische Wanderbund Blau-Weiß wurde 1912 in Breslau und Berlin gegründet, zur den historischen Bedingungen und zum kulturell-geistigen Milieu, die zur Gründung führten, ausführlich Hackeschmidt 1997.

[2]   Vgl. Markel 1966; Meyer-Cronemeyer 1968; Schatzker 1974 und 2004; Trefz 1999; auf autobiografische Quellen stützen sich Bergbauer/Springorum 2002.

[3]    Z.B. Angress 1985; Strauß 1997; Benari o.J.; Fürst 1975 und 1976; Goral-Sternheim 1989.

[4]    Vgl. Hetkamp 1994; Godenschweger/Vilmar 1990; Fölling/Melzer 1989.

[5]      In Ansätzen bei Sabiene Autsch 2000

[6]      Das DFG-Projekt „Wandering Images – Die Darstellung jüdisch/israelischer Gemeinschaftserziehung auf Fotografien aus Deutschland und Israel von 1920 bis 1970“ (unter Leitung von Prof. J. Jacobi an der Universität Potsdam) läuft seit Beginn 2001. Das Projekt ist auf zwei Forschungsziele konzentriert: erziehungswissenschaftlich geht es um die Erforschung der Praxen von Gemeinschaftserziehung als dem zentralen Erziehungskonzept des 20. Jahrhunderts, wobei insbesondere die spezifischen Vorstellungen und Formen von Gemeinschaft und Gemeinschaftserziehung der jüdischen Jugendbewegung im ersten Drittel des Jahrhunderts interessieren; diese mitteleuropäisch geprägten Vorstellungen von Gemeinschaftserziehung sollen dann mit jenen aus Palästina und Israel (vor allem aus dem Kibbuz) verglichen werden, die unter dem Einfluss der Emigration und neuen geographischen, politischen und kulturellen Bedingungen entstanden. Das zweite Ziel ist ein eher die visuelle Kommunikation betreffendes, bei dem die beiden Mitarbeiterinnen des Projektes, Ulrike Mietzner und Ulrike Pilarczyk, ihre seit mehr als neun Jahren laufenden Forschungen zur Fotografie als Quelle weiterführen.

[7]    Eine Übersicht bieten Schatzker 1974, Klönne 1993, für die chaluzische Bewegung nach 1933 Salinger 1998.

[8]    Das Bildbeispiel für die Einzelbildanalyse fand ich gleich in zwei privaten Fotoalben von Kadima-Mitgliedern (Käthe Weil, Emy Horowitz, beide Kadima, später Kibbuz Givat Hayyim) jeweils ohne Hinweis auf den Fotografen. Erst kürzlich konnte die Autorenschaft durch Zufall geklärt werden. Es stammt von Tim (Nachum) Gidal, einem später weltweit bekannten Photojournalisten, der zur Zeit der Aufnahme Mitte der 20er Jahre ca. 16-17 Jahre alt Kadima-Mitglied war. Bei den Abzügen, die Sonia Gidal (Habonim), erste Frau des Fotografen, dem Projekt aus ihrem persönlichen Besitz freundlicherweise überließ, befand sich auch diese Fotografie mit dem Copyright von Tim Gidal.

[9]    Kurt Meyerowitz wurde später auch als Fotograf bekannt und unterhielt bis zu seinem Tod in Israel ein Fotolabor.