Matthias Morgenstern
Martin Luther und die Kabbala
Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi.
2022.07.16.
Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 sind die "Judenschriften" Luthers, vor
allem die judenfeindlichen Spätschriften, neu in das Blickfeld gerückt. Es fällt
auf, dass diese Texte in der Öffentlichkeit ein eher gespenstisches Dasein haben:
Einerseits sind sie bedrohlich präsent und werden immer wieder angeführt, oft
mit dem Versuch, durch ein "healing of memories" zu "heilen", was nicht zu
heilen ist. Andererseits werden sie offenkundig nicht, jedenfalls nicht ganz,
gelesen, sondern bestenfalls "anzitiert". Zum Teil hängt das damit zusammen,
dass wissenschaftliche Ausgaben dieser Texte nur in Spezialbibliotheken zu
finden sind. Übertragungen in die moderne Sprache fehlen.
Hier soll daher eine neuhochdeutsche Lesefassung desjenigen Textes zur Verfügung
gestellt werden, der chronologisch und sachlich an Luthers Pamphlet Von den
Juden und ihren Lügen anschließt, seine im März 1543 veröffentlichte
Streitschrift Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi. Dies ist der
wohl schwierigste Judentext Luthers – nicht nur, weil der Titel einen
hebräischen Ausdruck nennt, der erst erklärt werden muss. Zudem greift Luther in
diesem Buch auf Traditionen der jüdischen Esoterik zurück, die er auf die ihm
eigene ironische und sarkastische Art und Weise mit ihren eigenen Waffen
schlagen will. Der Text befremdet auch, weil der Reformator in seiner Polemik zu
jedes Maß übersteigenden Obszönitäten greift; hinzu kommen Gewaltfantasien, die
man nur mit Schaudern zur Kenntnis nimmt.
Dennoch ist dieser Text lehrreich – dies nicht nur für das Verständnis der
Reformationsgeschichte und der jüdisch-christlichen Beziehungen. Diese
Bearbeitung mit ihrem Kommentar konzentriert sich auf die judaistische
Perspektive. Im Blickpunkt stehen quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche
Fragen: Welche Texte hat Luther gekannt? Unter welchem Einfluss stand er?
Luther selbst stellt ein jüdisches Traditionsstück an den Anfang, die
lateinische Version der Toledot Jeschu, einer Spott- und Gegenerzählung zu den
neutestamentlichen Evangelien, deren Wurzeln in der Spätantike liegen. Diesen
Text zu übersetzen und anschließend zu kommentieren, war der eigentlich Anlass
dieser Schrift. Auch der zweite Teil des Textes nimmt auf jüdische Traditionen
Bezug.
Mit den Toledot Jeschu rückt eine Überlieferung in den Mittelpunkt, wie sie für
das jüdisch-christliche Verhältnis brisanter nicht sein könnte: Es geht in
dieser Erzählung um den Kernpunkt der beiderseitigen Auseinandersetzung: um den
an das Neue Testament anknüpfenden Vorwurf des Christusmordes und um die Figur
des Judas Ischariot, des "Verräters" Jesu, wie sie im Mittelalter bestimmend für
die christliche Wahrnehmung "des Juden" war. Hinzu kommt das für Luther zentrale
Motiv, die magische Verwendung des Schem Hamephorasch, des hebräischen
Gottesnamens. Dieses Thema gab Luther Anlass zu einer polemischen Darstellung
des "magischen Umgangs" der Juden mit Tetragramm.
Luther wusste, dass Spekulationen über die Bedeutung des Gottesnamens wenige
Jahrzehnte zuvor bereits einmal im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatten.
Der Pforzheimer Humanist Johannes Reuchlin (1455–1522) war während einer
Italienreise von dem Grafen Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) in die
jüdische Geheimlehre eingeweiht worden. In seinen christlich-kabbalistischen
Abhandlungen versuchte Reuchlin, mit kabbalistischen Mitteln die Wahrheit des
christlichen Glaubens darzulegen. Sein Engagement für jüdische Texte und die
hebräische Sprache stieß in der Kirche aber auf Widerspruch. Es kam zu einer
Auseinandersetzung mit den Kölner Dominikanern, die den Juden Gotteslästerung
vorwarfen und die Verbrennung jüdischer Bücher und Handschriften forderten. Am
Ende des Jahres 1513 hatte Luther sich in einem vom kursächsischen Hofkaplan
Georg Spalatin angeforderten Gutachten auf die Seite Reuchlins gestellt, der die
jüdischen Texte verteidigt hatte.
Anders als Reuchlin ging Luther freilich davon aus, dass die Juden in der Tat
der fortgesetzten Gotteslästerung schuldig waren. In Gottes Souveränität durfte
nach seiner Überzeugung aber nicht eingegriffen werden, weshalb zu diesem
Zeitpunkt inquisitorische Maßnahmen nicht zu ergreifen waren. Dreißig Jahre
danach hatte der Reformator seine Meinung geändert. Auch inhaltlich lehnte er
die Spekulationen der Kabbala in jeder Form ab.
Anders als in der Forschung bisher angenommen, ist der zweite Teil dieser "Judenschrift" Luthers ("und vom Geschlecht Christi") kein zufälliger Anhang, sondern schließt
sich organisch an. Denn Luther lässt seiner polemischen Behandlung des Toledot
Jeschu-Stoffs eine ausführliche Darstellung seines christlich-theologischen
Verständnisses der Genealogie des Davidssohnes Jesu von Nazareth folgen. Luther
wusste, dass der hebräische Ausdruck Toledot Jeschu mit "Geschlechterfolge Jesu" übersetzt werden kann. An dieser Stelle hielt er daher eine Behandlung des
Problems der Widersprüchlichkeit der beiden Genealogien Jesu im Neuen Testament
(Matthäus 1, 1–17 und Lukas 3, 23–38) für geboten.
Diese und andere Informationen sollen den an vielen Stellen obszönen und
skandalösen Luthertext nicht relativieren. Immerhin wird deutlich, dass Luther
an einigen Stellen durchaus sachkundig Begriffe und Sachverhalte aus der Kabbala
und der jüdischen Volksüberlieferung referiert. Im Hinblick auf die Toledot
Jeschu berührte er Vorstellungen, die jüdische Leser bereits zu seiner Zeit –
umso mehr galt dies für die folgenden Jahrhunderte – durchaus in eine gewisse
Verlegenheit versetzen konnten. Nach 1945, unter dem Eindruck der grundlegenden
Neubesinnung in der christlichen Theologie im Zeichen des jüdisch-christlichen
Dialogs, galt es oft als "unfein", diese Traditionen auch nur zu erwähnen. Heute
ist es der Erforschung der mystischen Traditionen des Judentums zu verdanken,
dass sich über diese jüdischen Nebentraditionen leichter schreiben lässt. 2009
hat eine internationale Konferenz in Princeton zur Geschichte der Toledot
Jeschu-Überlieferung die Erforschung dieser merkwürdigen wie anstößigen
Volkstradition des Judentums auf eine neue Ebene gehoben.
Aufgrund dieser neuen Konstellation fällt mit Bezug auf bestimmte Motive, die
Luther von seinen jüdischen Gegnern übernahm, ein anderes Licht auf diese
polemischste der "Judenschriften" Luthers. Dennoch wird dieser Blick von der
Kabbala her an dem Urteil über Luthers Judenfeindschaft wenig ändern: Luther
gibt hier wie in seiner früheren Schrift Von den Juden und ihren Lügen krude
judenfeindliche und auch abergläubischen Vorstellungen zu erkennen, die seine
Schrift für heutige Leser eigentlich ungenießbar machen.
FEL